1883, Briefe 367–478
401. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 6. April 1883>
Lieber Freund,
beim Lesen Ihres letzten Briefes überlief mich ein Schauder. Gesetzt, Sie haben Recht — so wäre also mein Leben doch nicht mißrathen? Und gerade jetzt am wenigsten, wo ich es am meisten geglaubt habe?
Andererseits gab mir Ihr Brief das Gefühl, daß ich nun nicht mehr lange zu leben habe — und es soll so gut sein! Sie glauben, lieber Freund, es nicht, was für einen Überschuß von Leiden mir das Leben abgeworfen hat, in allen Zeiten, von früher Kindheit an. Aber ich bin ein Soldat: und dieser Soldat ist zuguterletzt noch der Vater Zarathustra’s geworden! Diese Vaterschaft war seine Hoffnung; ich denke, Sie empfinden jetzt den Sinn des Verses an den Sanctus Januarius „der du mit dem Flammenspeere meiner Seele Eis zertheilt, daß sie brausend nun zum Meere ihrer höchsten Hoffnung eilt“ — —
Und auch den Sinn der Überschrift „incipit tragoedia“. —
Genug davon. Ich habe vielleicht keine größere Freude in meinem Leben gehabt als Ihren Brief. —
Nun geben Sie mir einen Rath. Overbeck besorgt sich um mich (geben Sie ihm doch etwas Vertrauen auch in Bezug auf Zarathustra) und hat mir jüngst den Vorschlag gemacht, ich möchte wieder nach Basel zurückkehren und zwar nicht an die Universität; aber etwa als Lehrer am Pädagogium weiterwirken (er schlägt mir vor, „als Lehrer des Deutschen“) Dies ist sehr gut und fein empfunden, ja es hat mich beinahe schon verführt: meine Gegengründe sind Gründe von Wetter und Wind usw. O<verbeck> meint, daß es schon „Anknüpfungspunkte“ geben würde, falls ich dieses Willens sei; man hat mich gut im Gedächtniß, und, die Wahrheit zu sagen, ich bin nicht der schlechteste Lehrer gewesen. Meine Augen und die geringe Arbeitskraft meines Kopfes in Hinsicht auf Dauer wollen in Rechnung gebracht sein: ebenso die Nähe J<acob> Burkhardts, eines der wenigen Menschen, mit dem zusammen ich mich wirklich wohl fühle.
In diesem Sommer will ich einige Vorreden zu neuen Auflagen meiner früheren Schriften machen: nicht als ob neue Auflagen bevorstünden, sondern damit ich noch zur rechten Zeit besorge, was zu besorgen ist. Gar zu gerne möchte ich auch noch den Stil meiner älteren Schriften reinigen und klären; aber das ist nur bis zu einer gewissen Grenze möglich. —
Was macht der Apulische Hirtenreigen? —
Mich ekelt davor, daß Z<arathustra> als Unterhaltungs-Buch in die Welt tritt; wer ist ernst genug dafür! Hätte ich die Autorität des „letzten Wagner“, so stünde es besser. Aber jetzt kann mich Niemand davon erlösen, zu den „Belletristen“ geworfen zu werden. Pfui Teufel! —
Treulich und dankbar
Ihr Freund Nietzsche.