1883, Briefe 367–478
443. An Ida Overbeck in Basel
<Sils Maria, kurz vor dem 29. Juli 1883>
Meine liebe Frau Professor,
soeben kamen auch die Zwiebäcke an: ich finde sie mild und kräftig, so wie ich alle Dinge mir wünsche — und welcher Art auch Ihr Brief war, für den ich Ihnen den herzlichsten Dank zu sagen habe. Glücklicherweise darf ich sogar die Vermuthung aussprechen, daß wenn Sie diese böse Geschichte, in deren Schatten ich wandle, sehr viel genauer kennen würden, Sie mir ihrerhalben noch sehr viel gewogener sein würden. Vertrauen Sie doch diesem meinem Worte und denken Sie nicht an „Schwäche“ und „Allzumenschliches“ und dergleichen; und wenn ich an dieser Geschichte auch zu Grunde gehn sollte, so geschähe es, weil ich mir auch hier wieder zehn Mal zu viel zugemuthet habe als sonst Menschen thun, und gegen mich unerbittlich bleibe — also aus einer Stärke und nicht aus einer Schwäche. Glauben Sie auch nicht an „Rückfälle“: leider handelt es sich jetzt um Vor-Fälle, um Dinge die für mich neu sind und derentwegen ich Höllentage und -Nächte verlebt habe: nun, ich würge daran — und habe schon Manches im Leben hinunter gewürgt!
Bemerken Sie doch: die einzige meiner würdige Position in dieser Sache ist — daß ich ihr Opfer bin. —
Besorgen Sie sich auch nicht in Betreff einer „falschen Stellung“ von mir zu meiner Schwester (die Wahrheit ist, daß alle meine Stellungen zu allen Menschen falsch sind — wer kennt mich denn!); sie hat in dieser Sache ihr gutes Recht, überdies ist sie ebenso sehr oder mehr beleidigt als ich — und wenn sie durchsetzen will, daß Frl. S<alomé> wieder nach Rußland zurückgeschafft wird, so stiftet sie, falls sie es erreicht, mehr Nutzen, als ich mit meinem Ascetismus, der durchaus auf Rache verzichten will. Wir sind jetzt sehr gute Freunde, besser als je. Aber sie auf meinen Standpunkt versetzen? — Warum?
Meine Schwester ist voriges Jahr zu schonend gegen mich gewesen: ist es nicht toll, daß mir die gravirendsten Thatsachen dieser bösen Geschichte erst seit drei Wochen bekannt worden sind! — in Tautenburg hat sie dieselben mir verschwiegen, und in Rom verlangte ich, daß von dieser ganzen Sache nicht geredet werde. Erst ein Brief meiner Schwester an Frau Rée (beiläufig gesagt, ein Frauenzimmer-Meisterstück von Brief!), dessen Kopie sie mir schickte, gab mir Lichter und welche Lichter! Dr. Rée tritt auf Ein Mal in den Vordergrund: über einen Menschen, mit dem man sich lange Jahre in Vertrauen und Liebe verbunden gefühlt hat, umzulernen, so umlernen zu müssen — ist ganz und gar fürchterlich, und ich möchte mir einen Tropfen Trost und Labsal inmitten dieser Wüste aus den Fingern saugen. — Vielleicht bringt der Herbst noch ein kleines Pistolenschießen.
Von Steinach schwieg ich; ich habe mich hier bis Mitte September eingemiethet, mit meinem ganzen Hab und Gut (104 Kilo Bücher!) habe mir das Zimmer tapeziren lassen und will meine absolute Einsamkeit gehörig benutzen. Es ist mir nämlich im letzten Winter und Frühling gar zu viel Zeit verloren gegangen (durch Krankheit: es war ein typhöser Zustand, von dem ich mich äußerst langsam erholt habe). Ach, wenn Sie wüßten, was die Probleme mir für Noth machen, mit denen sich Geist und Herz jetzt bei mir herumschlagen — dies schreckliche Gefühl der Verantwortlichkeit auf der höchsten Spitze der Erkenntniß! Wahrhaftig, ganz abgesehn von allen elenden Erfahrungen und der ungeheuren Vereinsamung, in der ich seit Jahren lebe — das, was mich am stärksten am Leben festhält, ist auch das, was mir die tiefsten Nöthe und Desperationen bringt und bringen muß —: nun sollte man mich billiger Weise noch mit überflüssigen Nöthen verschonen!
Glauben Sie mir: wenn ich diese 2 Jahre leben bleibe, so ist es eine Leistung ersten Ranges.
— Lesen Sie doch auf dem beiliegenden Bogen „die heilige Katharina in Rom“ — da ist ein Ideal freilich in mittelalterlicher Verkleidung vorgeführt. Ich habe einmal den Glauben gehabt, einen Menschen dieses Ideals gefunden zu haben. Als ich diesen Glauben verlor, da war es nicht „Eine Enttäuschung“, sondern — die Enttäuschung. Nun, ich hatte sogar den Willen dazu, mir den Menschen umzuschaffen zu dem Bilde, welches ich mir von ihm gemacht hatte: — und wer weiß, wie weit ich’s darin gebracht hätte! Aber man hat mich gestört. —
Die Blätter sind aus dem Buche des Berliner Privatdozenten Heinrich von Stein (das ist übrigens der gegenwärtige Verehrer von Frl. S<alomé>, also mein „Nachfolger“, hierin, wie in andern Dingen).
Sonderbar! Noch in einem ihrer letzten Briefe an mich schrieb Malvida v. Meysenbug, sie habe seit Olga Niemanden so zärtlich geliebt wie Frl. Salomé. —
Im Herbst soll eine größere philosophische Arbeit fertig sein. Am zweiten Bande Zarathustra wird bereits eifrig gedruckt.
Ihnen und meinem Freunde den Ausdruck dankbarster Gesinnung! Das Geld ist in meinen Händen.
F.N.