1883, Briefe 367–478
390. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 16. März 1883>
Lieber Freund, es hat sich Nichts verbessert, der Kopfschmerz arbeitet jeden Tag von ½ 12 bis Abends um 7, ich bin fast immer zu Bett, ein Paar Stunden des Vormittags abgerechnet. Dazu haben wir Winter; und eine ganze Woche Sonne war nicht im Stande, den Schnee Genua’s abzuthauen. Mein Arzt widerräth mir Genua, seiner Winde wegen, welche auf mein Gehirn wirken, auch wenn ich im Zimmer bin. Er empfiehlt mir Süd-Spanien. Ich bin ruhig, aber von der schwärzesten Melancholie. Mein Leben ist in allen Fundamenten mißrathen, ich empfinde das jeden Augenblick — und ebenso, daß es so kommen mußte, und daß es meine einzige „Existenzform“ ist.
Herr Bungert und ich, zwei brave Genuesen — wir haben nun 3 Jahre in der größten Nachbarschaft gelebt (auch diesen Winter wieder, in Santa Margar.) — und nichts von einander gewußt. Er führt meine Schriften mit sich herum und hat Vieles „hinter sich“ gelassen, was auch wir „hinter uns“ gelassen haben zB. Schopenhauer. Wenn mich nicht Alles täuscht, so gehört diese neue Bekanntschaft zu den ausgesuchtesten, die mir der Zufall schenken konnte. Er ist selbständig; ich fand nichts Krankhaftes bisher an ihm. Er hat Feuer im Leibe und Muth zu den größten Aufgaben; seine Grundsätze sind streng und den unsern so verwandt als möglich. „Die Studenten von Salamanca“ (aus dem Gil Blas genommen) sind in einem neuen Stile componirt: lange geschlossene symphonische Formen. Was ich von ihm hörte, machte mir im hohen Maaße den Eindruck des Reifgewordenen; er verlangt von einem Stücke, daß jede Note zuletzt dran nothwendig sei und nicht durch eine andre ersetzt werden könne. Es ist ein Dichter; er hat den Kopf voll der griechischen Heroensage, und seine Entwürfe sind jener Welt von Empfindungen entnommen, in der Aeschylus und Sophokles dichteten. Eine Niobe schwebt ihm als sein Äußerstes vor der Seele. — Der germanischen Sage ist er abgeneigt. Von jetzt lebenden italiänischen Dichtern liebt er Stecchetti („Postuma“), und seinetwillen wird er wohl später in Bologna leben. Vorgestern war sein Geburtstag, was zufällig herauskam; ich war den Abend bei ihm, und er spielte mir neue Stücke zB. Genova la superba. Er hat viel italiänische Lieder componirt. Früher gehörte er nach seinem Geschmacke zu den Ultra-Romantikern und Anhängern des „letzten“ Beethoven; aber er hat viel erlebt und sich viel verwandelt. Es ist ein Rheinländer der Abkunft nach. —
So! — Das nenne ich „schwatzen“! — Von Teubner in Leipzig niente. —
Himmel! Was ist das Leben für eine kuriose Erfindung! —
Der Tod Wagner’s ist mir eine große Erleichterung. — Privatissime: es steht bevor, daß ich für ein Jahrzehnd „von der Welt verschwinde“. Aber die Gesundheit redet ihr Wort
Von Herzen der Ihre
F.N.