1883, Briefe 367–478
436. An Louise von Salome in Petersburg (Entwurf)
(Sils-Maria, Mitte Juli 1883)
Hochverehrte Frau
Ich bin Ihnen die Antwort auf die Bedenken schuldig geblieben, welche Sie in Ihrem Brief an mich äußerten, im Grunde, weil diese Bedenken sich mir selber inzwischen allzuschwer in der Wirklichkeit aufdrängten. Was war das für eine Täuschung, in welche man mich versetzt hatte! Man hatte mir von Ihrem Frl. Tochter gesprochen und geschrieben, wie als ob sie fast zu gut für diese Welt sei, eine Märtyrerin der Erkenntniß von Kindesbeinen an, jedes Glück und jedes Behagen des Lebens ja die Gesundheit hingebend für das Eine: Wahrheit, vollkommen selbstlos, und bewährt in einer langen Schule der Aufopferung. Ich will nicht davon reden, welche Mühe ich mir gegeben habe, auch den letzten Schatten dieses Bildes aufrecht zu erhalten und wie viel ich dabei zu vergessen und zu vergeben gehabt habe. Noch weniger aber will ich Ihnen als der Mutter aussprechen, welches Bild mir schließlich übrig geblieben ist.
Meine Schwester und ich — wir haben Beide alle Gründe, die Begegnung mit Ihrem Frl. Tochter im Kalender unseres Lebens schwarz anzustreichen. Daß wir Beide es sehr gut mit ihr gemeint haben, steht außer allem Zweifel. —
Mit ausgezeichneter Hochachtung Ihr ergebenster