1883, Briefe 367–478
431. An Franz Overbeck in Basel
<Sils-Maria, 9. Juli 1883>
Mein lieber Freund Overbeck! Der Zufall (oder die Post) wollte, daß Dein Brief erst den 4ten Juli in meine Hände gelangte — und seitdem war ich nicht wohl. So komme ich spät zu Dir, ganz wie mein Sohn Zarathustra, der sich nach meinem Willen schon diese Ostern meinen Freunden präsentiren sollte: aber da kam erst „das christliche Hinderniß“ (die 500 000 Gesangbücher, von denen ich wohl schrieb?) und nun steht ihm wieder „das judenfeindliche Hinderniß“ im Wege. Denn wirklich, es verhält sich so: Herr Schmeitzner meldete jüngst, die „äußerst wichtigen“ Verhandlungen und Reisen in Sachen des Antisemitenthums machten, daß der Verlag zurückstehn müsse die sämmtlichen Exemplare des Zarath<ustra>, eingerechnet die Freiexemplare seien noch in Leipzig! — Bravo! Aber wer erlöst mich von einem Verleger, der die antisemitische Agitation wichtiger nimmt als die Verbreitung meiner Gedanken? Ich meine hier nicht einmal besonders stolz zu reden — —
Ich erkannte auf der Theeund Leguminosen-Sendung mit herzlichem Danke die Handschrift Deiner lieben Frau; ich habe ihr Mühe gemacht! Ach, und ich muß fortfahren, ihr Mühe zu machen! Erstens brauche ich bald wieder Thee (bei diesem Kalk-Wasser braucht man doppelt so viel und bringt es doch nicht zu einem wohlschmeckenden Getränke: übrigens bin ich kein Freund von dieser Qualität, ich hätte gern ein Pfund von einem feineren Thee) Sodann: doch ich schreibe lieber bald einmal direkt an Deine verehrte Frau.
Ich habe hier sehr an der Kälte gelitten: ein wahres Glück, daß ich durch 3 ofenlose Winter einigermaßen abgehärtet bin. Doch wirken diese kalten Stuben sehr auf die Stimmung, in Genua so wie hier. Ein Gefühl von Welt-Fremdheit, Vorüber-Eilendem, Wanderer-haftem sitzt sehr tief in mir drin — und, die Wahrheit zu sagen, schwerlich nur in Folge der großen Unbehaglichkeit meines äußeren Lebens. Es kommt selten noch ein warmer Ton zu mir; und Vieles vom Allerbesten, das Anderen das Herz warm macht, ist mir gleichgültig geworden. Um ein Wort von meiner Gesundheit zu sagen: so bin ich einer der geduldigsten Menschen und balancire von einer Weise in die andre. Aber der Überschuß kranker, schmerzhafter, mindestens tief gehemmter Tage ist außerordentlich: obschon ich gegen mich als Patienten alle erdenkliche Vorsicht, Strenge und Selbstüberwindung gelten mache. Zweierlei scheint mir incurabel: das Eine, daß jedes regelmäßige geistige Arbeiten, nach einer gewissen Zeit (c. 2 Wochen) einen tiefen Verfall nach sich zieht, weil es zu intensiv ist (der Zeit nach gar nicht: da geben ja schon die Augen sehr bestimmte Grenzen!) Sodann: mein Gefühl, sei es des Angenehmen oder des Unangenehmen, hat so heftige Explosionen, daß ein Augenblick, im strengsten Sinne, hinreicht, um, durch eine Veränderung der Blut-cirkulation wahrscheinlich, mich vollkommen krank zu machen (etwa 12 Stunden später ist es entschieden, es dauert 2—3 Tage) Endlich: jeder bedeckte Himmel setzt mich tief herab; hier oben, wo die Wolken nahe sind, entsteht unvermeidlich sogar Kopfschmerz dabei. Also: Gegenden, wo es 200 bedeckte Tage giebt, nehmen mir 200 Tage weg — und umgekehrt.
Sonst ist der Engadin mir lieb und werth, und bis zur Mitte September soll er mir’s bleiben. Wie gern hätte ich Dich einmal recht nahe, alter lieber Freund!
F.N.