1883, Briefe 367–478
442. An Ida Overbeck in Basel (Entwurf)
<Sils-Maria, kurz vor dem 29. Juli 1883>
Soeben kamen auch die Zwiebäcke an: ich finde sie kräftig und mild, so wie ich alle Dinge mir wünsche — und welcher Art auch Ihr Brief war für dessen Vertrauen ich Ihnen meinen herzlichsten Dank zu sagen habe. Schließlich darf ich sogar glücklicherweise die Vermuthung aussprechen, daß wenn Sie die böse Geschichte, „in deren Schatten ich wandle“ sehr viel genauer kennen würden, Sie mir ihrethalben auch noch sehr viel gewogener sein würden. Vertrauen Sie doch diesem Worte und denken Sie nicht an „Schwäche“ und dergleichen; wenn ich an dieser Geschichte zu Grunde gehe, so ist es, weil ich mir in Bezug auf einen sehr natürlichen Zug des menschl<ichen> Herzens, nämlich „Rache“ schlechterdings nicht nachgeben will, also in Folge einer Stärke. Glauben Sie auch nicht an Rückfälle: leider handelt es sich um einen Vor-Fall, um etwas für mich Neues, von dem ich erst seit drei Wochen weiß und dessentwegen ich Höllentage und Nächte erlebt habe. Besorgen Sie sich auch nicht über die falsche Stellung zwischen meiner Schwester und mir (die Wahrheit ist, daß alle meinen bisherigen Stellungen zu allen M<enschen> falsche sind: sie ist ebenso oder mehr beleidigt als ich und hat ihr gutes Recht) und wenn sie durchsetzen will, daß L<ou> wieder nach Rußland zurückgeschafft wird, so stiftet sie, falls sie es erreicht, mehr Nutzen als ich mit meinem Ascetismus. Sie ist voriges Jahr zu schonend gegen mich gewesen und so sind mir erst seit 3 Wochen die gravirendsten Thatsachen dieser Geschichte bekannt geworden, die sie mir in Tautenburg verschwiegen hat. In Rom wollte ich nicht, daß von alledem geredet werde. Ein Brief an Frau Rée (übrigens ein Frauenzimmer-Meisterstück) dessen Kopie sie mir schickte, gab mir neue Lichter — und neue Qualen: Dr. Rée tritt auf einmal in den Vordergrund: über einen M<enschen> mit dem man jahrelang Liebe und Vertrauen gemein gehabt hat, umlernen zu müssen ist fürchterlich, und ich möchte mir in dieser Wüste Labung und Trost aus den Fingern saugen.
Von Steinach schwieg ich: ich habe mich hier bis Mitte Sept. eingemiethet, das Zimmer tapeziren lassen und will die absolute Einsamkeit benutzen. Im Winter und Frühjahr habe ich zu viel Zeit durch Krankheit verloren — es war ein typhöser Zustand, von dem ich mich nur ganz langsam erholt habe. (Sonderbar, ich hatte bis dahin noch nie an Fieber gelitten) Ach, wenn Sie wüßten, was die Probleme mir für Noth machten, mit denen ich mich jetzt herumschlage, und das schreckliche Gefühl der Verantwortlichkeit auf der höchsten Spitze der Erkenntniß! Wenn in dieses Uhrwerk schwieriger Vorstellungen und hoher Gefühle auf einmal die Sandund Schmutzkörner des Lebens hineingerathen — so entsteht etwas [von] wie tiefste Desperation. Glauben Sie mir, wenn ich diese 2 Jahre leben bleibe, so ist es eine Leistung ersten Ranges. Bis Ende Sept<ember> möchte ich eine größere philos<ophische> Abhandl<ung> fertig haben: inzwischen druckt man eifrig am zweiten Bande meines Zarathustra.
Ich habe einmal den Glauben gehabt, einen solchen M<enschen> gefunden zu haben. Als ich diesen Glauben verlor, da war es nicht eine Enttäuschung, sondern die Ent<täuschung>. Ich hatte den besten Willen, ihn umzuschaffen zu dem Bilde, welches ich mir von ihm gemacht hatte: man hat mich dabei gestört —; wer weiß, wie weit ich es gebracht hätte!
Sonderbar! Noch in einem ihrer jüngsten Briefe sagte M<alwida von Meysenbug>, sie habe seit Olga Niemanden so zärtlich geliebt als L<ou>.