1883, Briefe 367–478
421. An Marie Baumgartner in Lörrach
<Rom, 28. Mai 1883>
Inzwischen, verehrteste Frau, wird mein „Zarathustra“ bei Ihnen angelangt sein; und nach dem zu schließen, was Sie mir voriges Jahr über die ersten Zeilen desselben geschrieben haben (sie bildeten den Schluß der „fröhlichen Wissenschaft“); darf ich beinahe mit Sicherheit darauf schließen, daß dieser mein jüngster und liebster Sohn bei Ihnen nicht in der Fremde sein wird.
— Ich bin jetzt auf hoher See und verlange das Höchste von mir und — für mich. —
Im Zusammenhange damit steht nun ein Entschluß, der seit Jahren kommt und geht und wiederkommt und endlich — jetzt!
— mich reif findet und stark genug: der Entschluß, auf ein paar Jahre zu „verschwinden“.
Aber Sie meinen vielleicht, verehrte Freundin, ich sei schon genug „verschwunden gewesen“? — und Ihr letzter äußerst gütiger Brief scheint mir vielmehr den Wunsch auszudrücken, ich möchte aus den dunklen Wassern der Vereinsamung wieder „an die Oberfläche“ kommen!
Fragen Sie hierüber auch meinen Sohn Zarathustra: und wenn Entschuldigen von irgend welcher „Schuld“ dabei Noth thut, so wird er mich auch entschuldigen müssen!
Ich will es so schwer haben, wie nur irgend ein Mensch es hat: erst unter diesem Drucke gewinne ich das gute Gewissen dafür, etwas zu besitzen, das wenige Menschen haben und gehabt haben: Flügel — um im Gleichnisse zu reden.
Bleiben Sie mir gut, auch dann wenn ich „verschwunden“ und „verflogen“ bin!
Von Herzen Ihr Freund
Nietzsche.