1883, Briefe 367–478
428. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria, Engadin (Svizzera) <1. Juli 1883>
Wie kommt es doch, lieber Freund Köselitz, daß ich so lange nicht an Sie geschrieben habe? — so fragte ich mich eben. Aber ich war so unsicher und unschlüssig inzwischen, ein Hauch von Krankheit lag noch auf mir: da wollte ich nicht schreiben (ich habe diesen Winter leider viel zu viel Briefe geschrieben, die voller Krankheit sind —) Sodann mißrieth mir Einiges: so der Versuch, in Italien einen Sommeraufenthalts-Ort für mich zu finden. Einmal versuchte ich’s im Volsker-Gebirge und einmal in den Abruzzen (in Aquila) Nun ist mir verwunderlich gewesen, warum ich jetzt jedes Jahr, wenn der Frühling kommt, den heftigsten Trieb fühle, noch südlicher zu gehn: so dies Jahr nach Rom, voriges Jahr nach Messina; vor zwei Jahren war ich drauf und dran, mich nach Tunis einzuschiffen — da kam der Krieg. Die Erklärung liegt wohl darin, daß ich die Winter über jedesmal so an der Kälte gelitten habe (3 Winter ohne Ofen!) daß mit dem Erwachen der Wärme ein wahrer Heißhunger nach Wärme in mir erwacht. — Dies Jahr kam noch ein Heißhunger nach menschlichen, ich meine humanen Beziehungen hinzu: und namentlich nach „menschlicheren“ als das vorige Frühjahr mir gebracht hat. In der That, so wie ich jetzt Alles überschaue: so war das, was mir im vorigen Jahr und diesem Winter begegnet ist, von der schauerlichsten und bösesten Art: und ich wundere mich, daß ich mit dem Leben davon gekommen bin — wundere mich und zittere jetzt noch dabei.
— Man hat mir in Rom sehr viel Liebes und Herzliches erwiesen; und wer mir gut gewesen ist, ist es jetzt mehr als je.
Von Zarathustra höre ich jetzt eben, daß er noch „unversandt“ in Leipzig wartet: sogar die Freiexemplare. Das machen die „sehr wichtigen Verhandlungen“ und beständigen Reisen des Chefs der alliance antijuive, des Herrn Schmeitzner: da muß „der Verlag einmal etwas warten“: so schreibt er. Es ist wahrhaftig zum Lachen: zuerst das christliche Hinderniß, die 500 000 Gesangbücher, und nun das judenfeindliche Hinderniß — das sind ganz „Religionsstifterliche Erlebnisse“.
Malvida und meine Schwester waren erstaunt, wie bitter (verbittert) Zarathustra ausgefallen sei; ich — wie süß. De gustibus usw. —
Nun habe ich wieder mein geliebtes Sils-Maria im Engadin, den Ort, wo ich einmal sterben will; inzwischen giebt er mir die besten Antriebe zum Noch-Leben. Ich bin im Ganzen merkwürdig schwebend, erschüttert, voller Fragezeichen —: es ist kalt hier oben, das hält mich zusammen und stärkt mich. —
Ich will 3 Monate hier sein: aber was wird dann? Ach Zukunft! - - -
Fast jeden Tag denke ich mir aus, wie ich einmal wieder zum Hören Ihrer Musik komme; sie fehlt mir, ich weiß so wenig Dinge noch, die mir von Grund aus wohlthun. Aber Sils-Maria und Ihre Musik gehören dazu.
Ihr letzter Brief enthielt sehr schöne Gedanken, für die ich mich recht bedanke! Ich sah daraufhin mir noch einmal Epicur’s Büste an: Willenskraft und Geistigkeit sind im höchsten Grade an dem Kopfe ausgeprägt.
Ihnen nahe und von Herzen treu
F. N.