1883, Briefe 367–478
457. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria, 26. August 1883.
Wie gut that mir wieder Ihr Brief, Freund Venetianer! — das heiße ich „Vorlesungen über griechische Cultur“ vor Einem, der sie nöthig hat — und nicht vor Leipziger Studenten et hoc genus omne! Die kuriose Gefahr dieses Sommers heißt für mich — um das böse Wort nicht zu scheuen — Irrsinn; und wie ich im vorigen Winter zu einem wirklichen langen Nervenfieber wider alles Vermuthen gekommen bin — ich, der ich noch niemals Fieber gehabt hatte! — so könnte auch das noch passiren, woran ich ebenfalls nie bei mir geglaubt habe: daß mein Verstand sich verwirrt. Man hat mich ein Jahr lang zu einer Gattung von Gefühlen gehetzt, denen ich mit allerbestem Willen abgeschworen habe und über die ich in der gröberen Form wirklich glaubte Herr geworden zu sein: Rachegefühle und „ressentiment’s“. — Und dabei haben sich meine Triebe und Absichten verwirrt und sind labyrinthisch geworden: so daß ich oft nicht weiß, wie herauskommen. — Der Gedanke der Vorlesungen in Leipzig war ein Gedanke der Verzweiflung, — ich wollte eine Distraction durch stärkste tägliche Arbeit, ohne eigentlich auf meine letzten Aufgaben zurückgeworfen zu sein. Aber der Gedanke ist bereits wieder bei Seite gethan: und Heinze, der jetzige Rector der Universität hat mir klaren Wein darüber eingeschenkt, daß mein Gesuch in Leipzig scheitern werde (und wohl auch an allen deutschen Universitäten); die Fakultät werde es nicht wagen, mich dem Ministerium vorzuschlagen — von wegen meiner Stellung zum Christenthum und den Gottes-Vorstellungen Bravo! Dieser Gesichtspunkt gab mir meinen Muth wieder.
Auch die erste Besprechung des ersten Zarathustra, die mir zugesandt wird (von einem Christen und Antisemiten, und, sonderbarer Weise, im Gefängnisse entstanden) macht mir Muth, insofern auch da sofort die populäre Position, die einzig an mir begriffen werden kann, eben meine Stellung zum Christenthum, gut und scharf begriffen ist. „Aut Christus, aut Zarathustra!“ Oder auf Deutsch: es handelt sich um den alten längst verheißenen Antichrist — so empfinden es die Leser. Da werden alle Vertheidiger „unsrer Lehre vom Weltheilande“ feierlich herbei gerufen („umgürtet euch mit dem Schwerte des heiligen Geistes“!!) gegen Zarathustra: und dann heißt es „Bezwingt ihr ihn, so wird er der Eure und wird treu sein, denn an ihm ist kein Falsch; bezwingt er Euch, so habt ihr euren Glauben verwirkt: das ist die Buße, die ihr dem Sieger zahlen müßt!“
Hier, lieber Freund, so lächerlich es Ihnen vielleicht klingen mag, hörte ich zum ersten Male von außen her, was ich von innen her lange hörte und weiß: ich bin einer der furchtbarsten Gegner des Christenthums und habe eine Angriffs-Art erfunden, von der auch Voltaire noch keine Ahnung hatte. — Aber das geht Sie „Gott sei Dank!“ nichts an.
Worum ich Epicur beneide, das sind seine Schüler in seinem Garten; ja, da läßt sich schon das edle Griechenland, und da ließe sich gar das unedle Deutschland vergessen! Und daher meine Wuth, seit ich im breitesten Sinne begriffen habe, was für erbärmliche Mittel (die Herabsetzung meines Rufs, meines Charakters, meiner Absichten) genügen, um mir das Vertrauen und damit die Möglichkeit von Schülern zu nehmen. „Um des Ruhmes willen“ habe ich nicht Eine Zeile geschrieben, das glauben Sie mir wohl: aber ich meinte, meine Schriften könnten ein guter Köder sein. Denn zuletzt: der Trieb des Lehrens ist stark in mir. Und insofern brauche ich sogar Ruhm, daß ich Schüler bekomme — zumal es mit einer Stellung an Universitäten nach der letzten Erfahrung unmöglich ist. — Ich war ein Paar Tage mit Overbeck zusammen — ein paar reine sonnenhelle Tage, an denen auch Ihrer viel gedacht wurde!
F. N.
Ihren Worten über Epicur, wie den früheren über Seneca, weiß ich Nichts an die Seite zu stellen — an Sach-Kenntniß.