1883, Briefe 367–478
475. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Nizza (France) rue Ségurance 38 II. <4. Dezember 1883>
Meine liebe Mutter und Schwester,
habt nur Geduld mit mir (auch ich muß sie mit mir haben —): das ist freilich sehr viel verlangt, nicht wahr?
Inzwischen hat sich wenig gebessert, aber doch so viel entschieden, daß ich den Winter in Nizza bleibe. Die lärmende elegante Stadt mißfiel mir Anfangs; zuletzt habe ich aber Manches herausgefunden, was für mich übrig bleibt — stille Wege und italiänische Stadt-Theile, bessere Kost als in Genua und für einen bescheidenen Prinzen, wie ich bin, im Ganzen auch alte Genueser Preise. Es ist eine große Stadt, man kann’s haben, wie man will. Das Wichtigste aber ist, daß es keine Kranken-Stadt ist — viel zu frisch und windig: während es dieselbe Lichtfülle und Zahl der reinen Tage hat, wie jene Krankenorte, an denen ich nicht gehängt sein möchte.
Ich habe gegen Genua diesen Fortschritt gemacht: Genua hat ungefähr im ganzen Jahr so viel himmlisch-klare Tage wie Nizza in seinen 6 Wintermonaten. Von der belebenden, ja förmlich elektrisirenden Wirkung dieser Lichtfülle auf mein ganzes System kann ich keinen Begriff geben; der beständige schmerzhafte Druck auf dem Gehirn, dem ich zuletzt noch in Naumburg verfallen war, ist weg; auch esse ich noch einmal so viel, und der Magen protestirt nicht.
Trübe Tage machen mich auch hier krank. —
Mein Zimmer ist sehr kalt, aber gut für den Frühling. Glücklicherweise bin ich durch die Genueser Winter an schauerliche Winter-Zimmer gewöhnt.
Eben habe ich Köselitz eingeladen, hierher zu kommen; und Herr Paul Lanzky wird wohl einmal noch mein Reisegefährte nach Spanien sein. —
Licht, Licht, Licht — darauf bin ich nun einmal eingerichtet. —
Sagt dem werthen Dr. Ziller den allerschönsten Dank für seine übersandte Dissertation; sie soll, mit Köselitz zusammen, ernstlichst gelesen und überdacht werden. — Seid doch ja recht zufrieden, so gute Musik und einen so guten und interessanten Menschen im Hause zu haben. —
Für Weihnachten muß ich Euch bitten, meine Lieben, Euch etwas von mir zu wünschen und zu bescheeren, wonach Euch das Herz verlangt. Ja nichts senden! Es war mir unmöglich, in Genua die Schwierigkeiten zu überwinden, welche die Absendung des Paraguay-Thees machte; er steht noch in Genua. Wenn Du einmal durch diese Stadt kommen solltest, meine liebe Elisabeth, so empfehle ich folgende Wohnungs-Adresse: Frau Settimia Stagnetti, salita delle Battestine 8 (interno 5) — für Dich wie gemacht. (Monatl. 22 frs).
Hiesige Bekanntschaften gäben zu erzählen: ein preußischer General mit Tochter, die Frau eines indischen Fürsten Lady Memet Ali mit Töchterchen, ein prachtvoll köstümirter Perser, mein Tischnachbar, auch eine alte Baslerin, eine alte schwäbische Pfarrerin und Russen Engländer etc. — alles spricht aber deutsch und ist gegen mich artig. (Übrigens lauter honette Leute.)
Adressirt für gewöhnlich nach Villefranche-sur-Mer poste restante
Von Herzen
Euer F.