1883, Briefe 367–478
448. An Ida Overbeck in Steinach am Brenner (Entwurf)
<Sils-Maria, kurz vor dem 14. August 1883>
Ich will nur gleich direkt noch einmal an Sie schreiben und gut zu machen suchen, was ich mit dem letzten Briefe schlecht gemacht habe. Es muß ein sehr ungeschickter Brief gewesen sein, denn erstens hat er Sie betrübt, und zweitens hat er den Eindruck gemacht als ob ich mich zu vertheidigen hätte. Die Wahrheit zu sagen: zur Moralität ermahnt zu werden macht mich ungeduldig und der Ausdruck „falsches Mitleid“ angewendet auf den tiefsten Schmerz meines Lebens, hat mir sogar wehe gethan. Trotzdem sind das Empfindungen, die nicht 2 Tage bei mir anhalten, solchen M<enschen> gegenüber von deren gründlichem Wohlwollen ich überzeugt bin. Ich sehe, daß ich auf Ihren Brief diese Worte geschrieben habe „man thut nichts Dümmeres als klagen: man diskreditirt sich damit vor seinen Freunden und diskreditirt sich selber dadurch seine Freunde“. Indeß: „diese Weisheit“ soll in unserm Falle unanwendbar, oder ein überwundener Standpunkt sein, nicht wahr? — Übrigens ist die ganze böse Geschichte so complicirt, daß ich Jedem nur dankbar sein muß, der ihretwegen an mir noch immer nicht ernstlich irre geworden ist.
Meine Erfahrung vom vorigen Jahre hat mir eine seltsame Beobachtung an die Hand gegeben: ich, lange Zeit dem praktischen Leben fremd, handle in 50 Fällen 49 Mal nach einem Motive, an welches man nicht denkt, wenn man mich handeln sieht. Daraus ergiebt sich, daß ich fast immer Mißdeutung errege und meist, in unglücklichen Fällen, das Opfer meiner Handlungsweise bin. — Nun denke ich aber über Opfer, Enttäuschung, Schmerz und dergl. so: es kommt nur darauf an, daß man’s aushält — dann sind es die mächtigsten Förderungen und Quellen des Lebens. Und was dies Jahr betrifft, das noch nicht zu Ende ist — so kann ich jetzt schon sagen, daß ich niemals mich in solchen Höhen der Empfindung gefühlt habe, wie in diesem unheimlichen Jahre, und daß ich mehr als Eine Stunde mir schon wieder gesagt habe: ein solcher Schmerz, (es war als ob ich an allen verwundbaren Stellen auf Einmal mit dem Messer gestochen würde!); ist eine hohe Auszeichnung. Sie wissen viell<eicht> daß ich stolz darauf <bin>, in physischen Martern zu den M<enschen> zu gehören, welche am meisten Erfahrung haben. Ich habe Leib und Seele in solcher Beschaffenheit daß ich mit Beiden furchtbar leiden kann: und was die Seele betrifft, war ich voriges Jahr wie Einer, der viele, viele Jahre lang keine Erlebnisse mehr erlebt hatte: weshalb jede Haut der Seele und jede natürliche Schutzmaßregel mir fehlten.
Man hat mich in fürchterlicher Weise belogen, mißbraucht, verhöhnt in der Ehre beeinträchtigt — dies ist jetzt kein Zweifel. Wenn sich meine Freunde darüber empören und eine Genugthuung an den Übelthätern suchen, so ist das in Ordnung: dies nenne ich „das gute Recht meiner Schwester.“ Der Übelstand ist, daß alle diese feindl<ichen> Maßregeln sich gegen Personen richten, welche ich geliebt habe und welche ich viell<eicht> jetzt noch liebe: mindestens bin ich jeden Augenblick bereit, den ganzen Kram von Beleidigung und mir erwiesenem Schaden wegzuwerfen, wenn ich wüßte, ich könnte ihnen wirklich nützen.
Da überhaupt wieder in dieser Sache gehandelt wird (ich hatte meine Schwester dringend gebeten, es zu lassen), so bin ich gezwungen, mit meiner Schwester zu handeln; denn man hat sie im vorigen Jahre, von Seiten der Familie R<ée> in Stich gelassen, ebenso wie mich. Unter dem Eindruck einiger empörenden Details, die ich ein Jahr zu spät erfuhr, habe ich an Georg R<ée> den Rittergutsbesitzer auf Stibbe einen fulminanten Brief geschrieben. Er hat mir darauf mit einem Injurien-Prozeß gedroht — und darauf wieder habe ich mit etwas Anderem gedroht. Nun wollen wir sehen, wie es weiter geht.
Lou ist, was mächtige Energie des Willens und Originalität des Geistes betrifft, ein Wesen ersten Ranges und ebenso in Betreff einer wirklichen Genialität der Begabung für meine persönlichen Interessen habe ich [—] „es ist ewig schade um sie“, dies Wort hat hier sein Recht: — Nach ihrer praktischen Moralität mag sie ins Zuchthaus oder Irrenhaus gehören: — Für Rée und das ihn Auszeichnende mag sprechen, daß M<alwida> von M<eysenbug> ihn jahrelang, als den besten Ausdruck menschl<icher> Güte verehrt hat.