1883, Briefe 367–478
368. An Heinrich Köselitz in München
<Rapallo, 10. Januar 1883>
Inzwischen, mein lieber Köselitz, fehlte es mir an Vernunft — und so war ich nicht im Stande Ihren Brief zu beantworten, nicht einmal, ihn richtig zu empfinden. Es war mir, als ob aus einer ungeheuren Fremde her Jemand zu mir spreche.
Neulich unterwegs dachte ich viel an Sie: ich erwog das Problem, welches seit Wagner da ist, und ungelöst ist: wie ein ganzer Akt Oper eine symphonische Einheit als Organism bekommen könne. Dabei gerieth ich auf mancherlei Fragen der Praxis oder der „Praktik“; z.B. der Musiker müßte einen solchen Gesammt-Satz schaffen aus der genauesten Kenntniß des dazu gehörigen Stücks Drama (Affekte, Wechsel und Kampf der Affekte) und alles Scenische muß ihm gegenwärtig sein. Aber nicht das Wort! Der eigentliche Text müßte erst gedichtet werden, nachdem die Musik fertig ist, in einer fortwährenden Anpassung an die Musik: während bis jetzt das Wort es war, das die Musik mit sich fortschleppte.
Dies ist Ein Punkt: den Text nach der Musik zu dichten!
Der andere Punkt ist der, daß der Verlauf der Affekte, der gesammte Aufbau des Aktes etwas vom Schema des symphonischen Satzes haben müßte: gewisse Responsionen und dergl. — daß also der Dichter sofort auf die Aufgabe hin den Akt zu bauen habe, daß er ein symphonisches Ganze auch als Musik werden könne.
Kurz: der Musiker muß vorher den Dichter leiten, und nachher, wenn die Musik fertig ist, erst recht! —
Es thut mir Alles sehr wohl, was Sie über Ihre Erlebnisse schreiben. Auch selbst in meinem Interesse ist es, wenn Sie mit Levi eine gute Tonart des Verkehrs erfinden. Was seinen „Scherz“ betrifft, so habe ich ein Verschen gemacht:
„Mit Wagner bliebe man gerne Freund,
Wär’ er sich nicht selber sein größter Feind.“
Meine Grüße an ihn <Levi>, wenn es Ihnen passend scheint, sie auszurichten. — Irgendwann einmal werde ich doch wohl in München leben. —
Lesen Sie doch einmal die November-Nummer von Schmeitzner’s Zeitschrift. Da ist ein Aufsatz über die „fröhliche Wissenschaft“ aus einer mir unbekannten Feder. Nicht übel! Zum ersten Mal las ich seit 6 Jahren etwas über mich ohne Ekel.
Sonst stinkt das Blatt nach Dühring und Juden-Feindschaft.
Wenn es mir etwas besser geht (die Gesundheit ist sehr rückwärts gegangen!) werde ich auch an Frau Rothpletz schreiben, die mir einen äußerst liebevollen Neujahrsbrief schrieb. Einstweilen sagen Sie ihr den Dank meines Herzens.
Adieu, lieber Freund! Und vorwärts, aufwärts! Die Erde und das Leben sind nur bei dieser schrägen Richtung in die Höhe auszuhalten.
Von Herzen
Ihr F. N.
Anfang Februar werde ich wohl wieder in Genua sein.