1883, Briefe 367–478
382. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Rapallo, 21. Februar 1883>
Liebe verehrte Freundin,
so geht es! Ich warte Tag um Tag um Ihnen schreiben zu können: „ich komme!“, weil ich Tag um Tag denke, es wird besser gehn. Aber es geht immer schlechter, und jetzt, nach dem Tode Wagner’s zumal, ganz schlecht. Meine Gesundheit ist jetzt, wie Februar 1883 vor drei Jahren; es ist Alles krank an mir, und ich will und mag keinen Menschen sehn und sprechen. Es soll mein altes strenges Selbst-Régime noch einmal versucht werden: denn mein Erfahrungs-satz ist „wenn ich mir selber nicht allein helfe, werde ich keine Hülfe finden.“
Das heißt also: ich komme nicht nach Rom.
W<agner>s Tod hat mir fürchterlich zugesetzt; und ich bin zwar wieder aus dem Bett, aber keineswegs aus der Nachwirkung heraus. — Trotzdem glaube ich, daß dies Ereigniß, auf die Länge hin gesehn, eine Erleichterung für mich ist. Es war hart, sehr hart, sechs Jahre lang Jemandem Gegner sein zu müssen, den man so verehrt und geliebt hat, wie ich W<agner> geliebt habe; ja, und selbst als Gegner sich zum Schweigen verurtheilen müssen — um der Verehrung willen, die der Mann als Ganzes verdient. W<agner> hat mich auf eine tödtliche Weise beleidigt — ich will es Ihnen doch sagen! — sein langsames Zurückgehn und -Schleichen zum Christenthum und zur Kirche habe ich als einen persönlichen Schimpf für mich empfunden: meine ganze Jugend und ihre Richtung schien mir befleckt, insofern ich einem Geiste, der dieses Schrittes fähig war, gehuldigt hatte.
Dies so stark zu empfinden — dazu bin ich durch unausgesprochne Ziele und Aufgaben gedrängt.
Jetzt sehe ich jenen Schritt als den Schritt des alt werdenden Wagner an; es ist schwer, zur rechten Zeit zu sterben.
Hätte er noch länger gelebt, oh was hätte noch zwischen uns entstehen können! Ich habe furchtbare Pfeile auf meinem Bogen, und W<agner> gehörte zu der Art Menschen, welche man durch Worte tödten kann. —
Dies war bei weitem der härteste und qualvollste Winter meines Lebens, und mein Leid gieng außerordentlich in die Tiefe und die Abgründe; — die Anlässe dazu sind fast gleichgültig. Es gab irgend eine große Nothwendigkeit für mich, einmal gemartert zu werden und zu sehn, ob mein Ziel mich leben läßt und am Leben festhalten läßt. Der Tod Wagner’s gab in diese Empfindungen hinein einen tiefen dumpfen Donner; aber vielleicht geht mein Ungewitter jetzt seinem Ende zu.
Mit der wärmsten Dankbarkeit
Ihr Nietzsche.
Ich habe an Cosima geschrieben. Sie werden dies billigen?