1883, Briefe 367–478
397. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 2. April 1883>
Lieber Freund Köselitz, nehmen wir an, daß es jetzt wieder aufwärts geht — vergessen und verbrennen Sie den Unsinn meiner diesjährigen Briefe und glauben Sie kein Wort von alledem, was ein kranker Mensch spricht. Ihr letzter Brief war wieder so reich an kräftigen Einsichten — ich schämte mich ordentlich, daß Sie derlei als Antwort auf meine todtmüde Bett-Briefschreiberei mir sendeten. Natürlich haben Sie Recht, und ich bin ein Unwissender in Dingen der musica. Alle meine Erinnerungen sind hierin zehn bis 20 Jahre alt; und damals war ich noch ein Andrer, oder vielmehr: ich war damals gewiß noch nicht „ich selber“. — Es ist Schade, daß ich Ihnen das Liederheft Bungert’s sendete, ich wußte nicht, was darin stand und wollte ihn wahrhaftig nicht bei Ihnen herabsetzen. Ich halte ihn für etwas — er ist sehr fleißig und unangenehm. Was muß ich aber für Unsinn geschrieben haben, daß Sie glauben konnten, er betrachte Beethoven als überwundenen Standpunkt — und ebenso, daß er eine tiefe Wirkung von mir aus erfahren habe? Von Beidem ist das Gegentheil wahr; es verdrießt mich, ihn derart bei Ihnen „verleumdet“ zu haben. Was Beethoven betrifft, so gehen meine Erinnerungen auf Tribschen zurück. W<agner> liebte die letzten Quartette sehr, er wollte mit ihnen demonstriren, daß Beeth<oven> sich aus der Form nichts mehr gemacht habe; „er hätte hier oder auch dort aufhören können“ — sagte er wohl bei einem Stück. Das allerletzte Quartett ist, wenn ich mich recht erinnere, eine Ausnahme, nach dem Urtheil der Wagnerianer ein „Rückschritt“. — Lieber Freund, für all diese Dinge, wie sie in Wahrheit stehen, müssen Sie mir erst wieder Ohren machen.
Ich dachte oft, daß jetzt für mich die rechte Zeit gekommen sei, mich an Haydn’s Quartetten zu erquicken. Die letzten Beethovenschen sind, nach meiner Erinnerung, als Ganzes eine undeutliche und launenhafte Musik: an einigen Stellen steht freilich der Himmel offner als irgendwo. (Damals sagte ich „das sind Behauptungen, aber keine Beweise: das ist ,gesetzt’, aber nicht — componirt“)
Zarathustra kommt jetzt an die Reihe. Was stand ihm im Wege? Eine halbe Million christlicher Gesangbücher, die Teubner bis Ostern fertig machen mußte. Unter welche Rubrik gehört eigentlich dieser „Zarathustra“? Ich glaube beinahe, unter die „Symphonien“. Gewiß ist, daß ich damit in eine andere Welt hinübergetreten bin — der „Freigeist“ ist erfüllt. Oder?
Von Herzen
dankbar Ihr Nietzsche.
(Ich bleibe bis zum 25ten hier.)