1883, Briefe 367–478
450. An Franz Overbeck in Steinach am Brenner (Entwurf)
<Sils-Maria, 14. August 1883>
Ich will auch an Dich, lieber Freund, noch ein Paar aufrichtige Worte schreiben, wie ich es jüngst an Deine Frau gethan habe. Ich habe ein Ziel, welches mich nöthigt, noch zu leben und dessentwegen ich auch mit den schmerzhaftesten Dingen fertig werden muß: ohne diesen Zwang, der über mir steht, würde ich es leichter nehmen — nämlich längst nicht mehr leben. Und nicht nur hätte mir Jeder, der in diesem Winter meinen Zustand aus der Nähe gesehn, begriffen hätte, sagen dürfen: mach Dir’s doch leichter! Stirb!“ sondern auch schon früher, in den furchtbaren Jahren physischer Leiden, stand es so mit mir. Selbst noch meine Genueser Jahre sind eine lange lange Kette von Selbst-Überwindungen und nicht im Geschmacke irgend eines M<enschen>, den ich kenne. Also, lieber Freund, der „Tyrann in mir“ der unerbittliche wird mich vielleicht auch diesmal triumphiren lassen (was körperliche Qualen betrifft — nach Länge Intensität und Mannichfaltigkeit darf ich mich zu den Erfahrensten und Erprobtesten und Siegreichsten unter den Menschen zählen) Und wie meine Denkweise ist, so verlangt sie sogar einen absoluten Sieg: nämlich die Verwandlung des Erlebnisses in Gold und Nutzen höchsten Ranges. Einstweilen bin ich aber immer noch der leibhaftige Ringkampf: beim Lesen der Aufforderung Deiner lieben Frau hatte ich den Eindruck, als ob Jemand den alten Laokoon auffordere, er möge doch seine Schlangen überwinden. Pardon!
Meine „Angehörigen“ und ich wir sind von einander zu verschieden: sie wissen nicht genau was mir noththut. Die Maßregel, die ich den Winter über nöthig befand, keine Briefe mehr von daheim zu empfangen, ist aber nicht mehr aufrecht zu erhalten. Ich blute aber noch an jedem verächtlichen Wort, das gegen Rée oder Frl. S<alomé> geschrieben wird — ich bin nicht zur Feindschaft gemacht, während meine Schwester mir kürzlich schrieb, es sei ja ein „frischer fröhlicher Krieg.“
Ich habe die stärksten abziehenden Mittel angewendet, die ich kenne, und namentlich an meine höchste und schwerste Produktivität appellirt. (Inzwischen ist wieder die Skizze zu einer „Moral für Moralisten“ fertig geworden) Aber von außen her kommt mir Nichts entgegen: umgekehrt, es ist gleichsam alles verschworen, mich in meinem Abgrund festzuhalten: so das entsetzliche letztjährige Winter-Wetter, wie es die Küste von Genua noch kaum erlebt hat, so wieder dieser kalte trübe Sommer ohne Sonnenschein. Das Mißgeschick Köselitzens im vorigen Herbst hat mich tief verletzt; der Tod W<agner>’s aber war viell<eicht> die schauerlichste Complikation dieses Winters, aus Umständen, von denen ich nicht reden kann. Das langwierige Nervenfieber gab mir einen Begriff von der tiefen Erschütterung meines Wesens — denn ich hatte überhaupt bis dahin noch nie Fieber gehabt und mich für unfähig dazu gehalten)
Denke doch daran, Etwas absolut Abziehendes ausfindig zu machen: ich bin eine so concentrirte Natur, daß es jetzt der äußersten und extremsten Mittel bedarf, um mich abzuziehn. Die Gefahr ist groß. Soll ich eine Übersiedelung nach Mexico vornehmen?