1883, Briefe 367–478
391. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 20. März 1883>
Mein lieber Freund,
ich schreibe Ihnen gleich noch ein Paar Worte über Hr. Bungert und schicke auch zugleich etwas Musik von ihm an Sie ab (ich selber kenne dieselbe noch nicht.) Mit seinen gedruckten Sachen steht er bei op. 27; nun ist aber die ganze Genueser Ausbeute noch unedirt. Er lebt von dem, was man ihm für seine Musik bezahlt (man bezahlt sehr viel), hinzugerechnet, daß er wöchentlich etwa 4 Stunden giebt. Er besitzt einen herrlichen Flügel, ein Pianino und eine „comfortable“ Einrichtung für 2 Zimmer — alles erworbenes Hab und Gut; auch eine gute Bibliothek — für griechische Tragödie und für Homer viel Philologisches; dann eine Menge Lyriker. Er hat Vorlieben für Unbekanntes auch innerhalb der deutschen Litteratur; es scheint wirklich das Beste unbekannt, wenigstens mir unbekannt zu bleiben.
In Bezug auf Gedichte ist mir seine Cultur ganz erstaunlich. Wie stark und wie geistreich weiß er einem Gedichte beizukommen! Aber die Musiker sollten auch billigerweise die besten Interpreten sein.
„Wirkung“ seiner Musik auf mich? Ach, Freund, ich bin langsam in der Liebe, ich empfinde das Fremde zu lange, wie alle Einsamen thun; aber ich gebe mir Mühe. Ich sagte ihm neulich, der wahre Künstler sei der, welcher „mit Vernunft rase“; so scheint es mir bei ihm zu stehn und ich habe meine große Freude dran. Sein Affekt geht leicht in die Höhe, und es ist nichts Gewolltes und Geschraubtes daran; auch ist er allen „hysterischen“ Leidenschaften herzlich feind. Es scheint mir, daß er jetzt „machen kann“, was er will; dies ist seine Gefahr; er muß sich durch große Aufgaben erziehn. Das Leben hat ihm vor 3 Jahren die tiefste Wunde gemacht; er meinte, man wachse nur durch große Verluste: erst seitdem hat er seine dramatischen Ziele. Sein nächster Freund ist der Bildhauer Cauer in Rom. Er ist entschlossen von Charakter und kein Schmeichler; die Kellner mögen ihn, obwohl er sie etwas mißhandelt. Er besucht keine Gesellschaften, aber man legt, wie es mir scheint, hier großen Werth darauf, ihn einmal bei sich zu haben; besonders die Familie des deutschen Consuls Leupold und Engländer. Vorgestern überraschte er mich durch die Schnelligkeit, mit der er ein Lied componirte, das ihm die Königin von Rumänien zusandte: es hieß „Alpenglühen“ — nachdem ich es vier Mal singen gehört hatte, schien es mir ein sehr gutes Gedicht. (Besagte Dame wird in Pegli erwartet.) Für den Frühling geht er nach Deutschland, um seine Gil-Blas-Oper aufzuführen (sie ist in Leipzig und Köln angenommen; er corrigirt eben Partitur- und Klavierauszug-Abschriften. Den Klavierauszug hat Blomberg gemacht: wissen Sie aus Basel noch, wer das ist?)
— Ganz unter uns, lieber Freund: der Ort, wohin ich mich zurückziehn werde, ist Barcelona in Spanien, vom Herbste an. Ich will meine Lebensaufgabe schon zu Ende führen — aber damit ist das nicht widerlegt, was ich im letzten Briefe andeutete. (Ich leide viel zu viel, und ich entbehre — Alles!)
Noch fällt mir ein: Bungert findet die Orchestration von Carmen außerordentlich, höchstens zu raffinirt; er erzählte, daß Hector Berlioz selber bei dieser Partitur sehr die Hand im Spiel gehabt habe. — Was seine eigne Orchestration in der Gil-Blas-Musik betrifft, so fürchtet er, daß sie „zu schwer“ ist. — Es giebt eine Ouvertüre „Tasso“ von ihm und eine Symphonie (ungedruckt).
So! Mein lieber alter Freund, ein geschwätziges Brieflein.
Allerschönsten Dank!
Ihr F. N.
(krank)