1883, Briefe 367–478
386. An Franz Overbeck in Basel
<Genua, 6. März 1883>
Lieber Freund, Dein Brief that mir herzlich wohl. Verzeihung, wenn ich jetzt wenig schreibe. Ich bin krank, fast vom Augenblick an, wo ich Genua betrat. Fieber, Kopfschmerz, Nachts Schweiß, große Müdigkeit. Zumeist zu Bett; ich habe weder Appetit noch Geschmack. Man nennt diese Krankheit hier Influenza. Dr. Breiting (der erste Arzt Genua’s und mir äußerst zugethan) hat mir Chinin verordnet; das hatte ich mir natürlich auch selber schon verordnet. — Es soll eine Sache von 4—6 Wochen sein. Wie gut, daß ich allein und nicht in Rom bin!
Sonst sieht der Himmel fortwährend rein und klar aus, und auch in mir ist Alles geordneter und zufriedener. Ich begreife eine gewisse Nothwendigkeit für mich, darin, daß ich so gelitten habe; ich habe mir drei oder vier Glücks-Wünsche persönlicher Art, die ich noch hatte, damit aus der Seele geschnitten, und bin wieder freier als ich es vorher war. — Die Loslösung von meinen Angehörigen fängt an, sich mir als wahre Wohlthat darzustellen; ach, wenn Du wüßtest, was ich in diesem Capitel (seit meiner Geburt —) Alles zu überwinden gehabt habe! Ich mag meine Mutter nicht, und die Stimme meiner Schwester zu hören macht mir Mißvergnügen; ich bin immer krank geworden, wenn ich mit ihnen zusammen war. „Gezankt“ haben wir uns fast gar nicht, auch im vorigen Sommer nicht; ich weiß schon mit ihnen umzugehen, aber es bekommt mir schlecht.
Eine andere „Befreiung“ will ich Dir nur andeuten: ich habe es abgelehnt, daß Rée’s Hauptbuch „Geschichte des Gewissens“ mir gewidmet wird — und damit einem Verkehre ein Ende gesetzt, aus dem manche unheilvolle Verwechslung entstanden ist. —
Ob mein letztes Werk gedruckt wird, ist mir zweifelhaft; ich höre und sehe nichts mehr davon. Nun, es hat auch Zeit! —
Malvida schrieb mir eben, auch von Frau Wagner „C<osima> will für die Welt, uns Alle einbegriffen, ebenso abgeschieden sein wie er, will nie die Freunde wiedersehn, nie einen Brief mehr lesen, kurz wie eine Nonne leben, nur seinem Andenken und den Kindern.“ —
Ungefähr will ich’s ebenso machen, wenn auch nicht aus gleichen Motiven. Ich werde „verschwinden“ — ich glaube, das habe ich schon vom Engadin aus Dir einmal in Aussicht gestellt. Vorher aber bedarf ich noch vieler Erwägungen und auch einer langen persönlichen Unterredung mit Dir.
Mein Leben gestaltet sich allmählich und nicht ohne Krämpfe — aber es soll Gestalt bekommen!
So! Und nun will ich mich wieder hinlegen. Was ich müde bin!
Dir und Deiner verehrten Frau immer auf das dankbarste eingedenk
F.N.
Genova Salita delle Battestine
8 (interno 4)
Dienstag den ?
Deussens Vedanta-Werk ist ausgezeichnet. Übrigens bin ich für diese Philosophie beinahe das böse Princip.