1883, Briefe 367–478
474. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nice (France), rue Segurance 38 IIDienstag, im Anfang <4.> December. <1883>
Ach, lieber lieber Freund, eben erst kommt Ihre Karte in meine Hände, es macht mich unglücklich, wie spät! — und namentlich, daß ich Genua verlassen habe und, nach längerem Zweifel, mich vorgestern für diesen Winter in Nizza festgesetzt und festgebunden habe! Im Jahr 220 vollkommen reine Tage — das entschied zuletzt: die Wirkung dieser herrlichen Lichtfülle auf mich sehr gequälten Sterblichen (und oft so Sterbenslustigen —) grenzt an’s Wunderbare. Ich habe hier für die sechs Winter-Monate fast so viel Himmels-Tage als in Genua für das ganze Jahr. Damit sagte ich der geliebten Stadt des Columbus — etwas Anderes war sie mir nie — Lebewohl; und sie war zuletzt noch rührend-schön in ihrem Oktoberglanze.
Nizza, als französische Stadt, ist mir unleidlich und fast ein Flecken in dieser südländischen Herrlichkeit; aber es ist auch noch eine italiänische Stadt — da, im älteren Theil, habe ich mich eingemiethet, und wenn geredet werden muß, wird italiänisch geredet: dann ist es, wie in einer Genueser Vorstadt.
Freund, ich weiß Etwas, das ich Ihnen nicht verschweigen will. Eine deutsche Dame wünscht Pensionäre zu haben, in einer neu eingerichteten Villa (bestens eingerichtet und warm — wie ich bezeugen kann); und da sie diesmal anfängt, so hat sie einen unglaublich niederen Anfangs-Preis für diesen Winter gemacht (90 frs. für Zimmer und Kost). Es ist nicht nahe bei mir, sondern ein Halb-Stündchen weit; ungefähr die ganze Promenade des Anglais liegt dazwischen. Gesetzt aber, Sie wollten sich dort einlogiren, so wäre der letzte Gesichtspunkt vielleicht sogar in Ihrem Sinne vortheilhaft. — Ich selber zahle 25 frs. Miethe für den Monat; und auch billige Restaurationen giebt es, im Stile Ihrer Panada und der Pariser Etablissements Duval: es ist besser hier leben als in Genua. Wein sehr billig.
Jene Villa liegt still, im Garten; schöne Hügelland-Spaziergänge sind unmittelbar dabei. Das Meer etwa 10 Minuten weit.
Zuletzt, liebster Freund — ich weiß gar nicht mehr zu sagen, wie sehr ich Ihre Musik liebe und sehnsüchtig liebe. Die Zahl der Dinge, die mir ganz und gar wohl thun und die Seele heil machen, ist so klein für mich geworden, oh ich großer Narr!
In herzlicher Liebe Ihr
Nietzsche.
Ein Beweis, daß ich Sie gern in irgend einer Art bei mir haben möchte: ich habe dies Mal aus Naumburg Ihre sämmtlichen Briefe an mich mitgenommen.
FN.
Reisegeld von Genua nach Nizza würde unter meine Obliegenheiten gehören — nicht wahr, alter Freund?