1883, Briefe 367–478
438. An Ida Overbeck in Basel
<Sils-Maria, Mitte Juli 1883>
Liebe verehrte Frau Professor,
inzwischen kam der Brief meines Freundes Overbeck, und ich erlaube mir heute einmal, ihm so zu antworten, und zu danken! daß ich an Sie schreibe, an die ich seit langer Zeit keinen Brief abgeschickt habe! Seien Sie froh deshalb: denn Alles, was ich in dem letzten Zeiträume an Briefen „verfaßt“ habe, gehört unter die Rubrik: Krankheit und Schwermuth — und auch die Dinge, von welchen ich zu erzählen (oder eigentlich nicht einmal zu erzählen) hatte, waren aus dem Reiche des Daseins, welches man am besten verhüllt. Es war mein schwerster und kränkster Winter; und die Erlebnisse, die ihn dazu machten, hätten Einen über Nacht zu einem „Timon von Athen“ machen können. Was liegt daran, daß in ihnen allen Nichts ist, dessen ich mich zu schämen hätte und Manches, das eine andre Würdigung und Theilnahme hätte finden dürfen, als es sie zB. bei meinen Angehörigen gefunden hat! In dem finde und fand ich keinen Trost und keine Erleichterung. Im Gegentheil: wenn ich selber irgendwie mehr zu dieser Gattung von „Wirklichkeit“ gehörte, ihr gleichartiger wäre, so würde ich wahrscheinlich Alles viel leichter ertragen haben — — und tragen. So aber fiel es wie ein Wahnsinn über mich her; und es ist durch Nichts wieder gut zu machen, daß meine Phantasie und mein Mitleid jetzt nun ungefähr ein Jahr in dem Schlamm dieser Erfahrungen hat waten müssen. Ich glaube mehr bereits ausgestanden zu haben, fünf Mal mehr, als genügt, einen normalen Menschen zum Selbstmord zu bringen: und es ist noch nicht zu Ende. Das Unglück wollte, daß ich voriges Jahr im Grunde nur Dinge zu hören und errathen bekam, die zu diesen nächsten Erlebnissen den entsprechenden Rahmen bildeten; insbesondere sind mir einige Proben einer abgründlichen Perfidie der Rache (seitens jenes jüngst gestorbnen großen Musikers R<ichard> W<agner>) zu Ohren gekommen. Der Contrast all dieser Dinge zu dem Seelen-Zustand, in welchem ich vorigen Frühling lebte, war ganz und gar schauerlich, und stark genug, ein Glas zu zerbrechen, das auch ziemlich viel schon ausgehalten hat.
Jetzt gehen diese Dinge wieder von Neuem vorwärts. Meine Schwester will ihre Rache an jener Russin haben — nun gut, aber bis jetzt bin ich das Opfer von alledem gewesen, was sie in dieser Sache gethan hat. Sie merkt nichts davon, daß kaum ein Zoll noch fehlt zum Blutvergießen und zu den brutalsten Möglichkeiten — und ich lebe und arbeite hier Oben diesen Sommer wie Einer, „der sein Haus bestellt.“ — —
In der That, ohne die Ziele meiner Arbeit und die Unerbittlichkeit solcher Ziele lebte ich nicht mehr. In so ferne heißt mein Lebensretter: Zarathustra, mein Sohn Zarathustra! —
Was den betrifft: so habe ich Alles dazu gethan, daß er diese Ostern bei meinen Freunden erscheinen konnte — Der Rest ist Schweigen.
Das Geld bitte ich meinen Freund, hierher zu senden. Mit Thee bin ich durch meinen Wirth versorgt worden, der Commissionär für Genfer Geschäfte ist. Die Leguminose ist sehr empfehlenswerth. — Wollen Sie einen guten Zwieback-Bäcker mit dem beifolgenden Zettel versehen und den Freund bitten, daß er die Bezahlung übernimmt? (In Genua zahle ich für den feinsten Zwieback in der ersten Conditorei 1 frc. 60 das Kilo)
Und nun den herzlichsten Gruß und die alte Bitte um Nachsicht!
Ihr F.N.
Auch Ihrer Frau Mutter den wärmsten und dankbarsten Gruß und meine Bitte um Verzeihung dafür, daß mein Brief an Sie immer noch — in Chemnitz liegt! — Was ist jetzt ihre Adresse?