1883, Briefe 367–478
430. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, 6. Juli 1883>
Soeben, mein liebes Lama, sagt man mir, daß wir den 6ten Juli haben: so lasse ich schnell noch ein Brief-Täubchen abfliegen, daß Dir zur angemessenen Stunde meine allerschönsten Gratulationen überbringen mag.
Burckhardt’s Cicerone, dessen neueste Außage zu besitzen Du einmal den Wunsch geäußert hast, soll in meinem Auftrage auf Deinem Geburtstags-tische liegen; es ist wirklich eins der besitzenswürdigsten Bücher und beinahe belehrender als ein Aufenthalt in Rom: für uns Beide soll das Buch aber ein Erinnerungs-zeichen sein an das vielerlei Gute, was wir dort zusammen gesehn (und nicht gesehn) haben —eingerechnet die Genüsse anderer Art zB. in den trattorie.
An letztere werde ich eben durch meine oede langweilige Leguminosen-Suppe erinnert: zu der bin ich aber heute verurtheilt, weil mein Magen in Folge eines äußerst schmerzhaften 2tägigen Anfalls ganz geschwächt ist. Es geht mir eigentlich nicht gut; denn ich mache jede Veränderung des Wetters mit durch; namentlich hat mir bisher jede Bedeckung des Himmels meinen Kopfschmerz gebracht; — gemäß der Nähe der Wolken bin ich sogar hier in diesem Punkte noch empfindlicher als in Genua. Die Moral meiner Gesundheit heißt nach wie vor: „wo es jährlich 200 bewölkte Tage giebt, bist Du 200 Tage unwohl und leidest: wo es 40 bewölkte Tage giebt, hast Du für 320 gute Chancen — um nicht mehr zu sagen“.
Zudem: es ist hier ein Winterchen fortwährend: ich bin äußerst dankbar für den Besitz des Fußsacks (sage das unserer lieben Mutter, insgleichen meinen herzlichsten Dank für ihren zweiten Brief!).
Das Zimmer habe ich dunkel mir tapeziren lassen, aber es ist und bleibt kalt und sehr niedrig! - - -
Aber das sind Allotria; jetzt, meine liebe Schwester, eine Hauptsache, eine ganz ernsthafte Bitte an Dich! Du sollst Schmeitznern die bestimmte Erklärung abnöthigen, mündlich oder schriftlich, wie Du es am besten vermagst, daß er den 2ten Theil Zarathustra unverzüglich in Druck giebt, sobald das Manuscript in seine Hände kommt. Ich will damit zu Ende kommen und von dieser Expansion des Gefühls erlöst sein, die solche Produktionen mit sich führen: es ist mir öfter der Gedanke gekommen, daß ich an so Etwas plötzlich sterbe. Er soll es in der Hand haben, wann er diesen zweiten Theil (genau vom Umfange des ersten) ausgeben will: aber ich will den Druck hinter mir haben und muß dies verlangen: es ist eine Gesundheitssache ersten Ranges. Dieses Frühjahr bin ich durch die nichtswürdige Bummelei der Herrn Teubner 4 Wochen länger krank gewesen als ich hätte sein müssen. Dafür will ich Schmeitznern versprechen, daß nächstes Jahr von mir nichts zu drucken ist: meine Absicht ist nun, Vorträge auszudenken und auszuarbeiten, und den „Text“ für meine Vorträge aus meinem Zarathustra selbst zu nehmen. —
Aus Allem wirst Du errathen, daß besagter 2ter Theil wirklich existirt: Du kannst Dir von der Vehemenz solcher Entstehungen nicht leicht einen zu großen Begriff machen. Darin aber liegt ihre Gefahr. — Um des Himmels Willen, bringe dies mit Schmeitzner in’s Reine; ich selber bin jetzt zu reizbar gestimmt. — Ach, wie schön, daß ich Dir so Etwas schreiben kann! —
Ganz von Herzen
Dein Bruder.