1883, Briefe 367–478
434. An Paul Rée in Flims (Entwurf)
<Sils-Maria, Mitte Juli 1883>
Zu spät, fast ein Jahr zu spät erhalte ich Aufschluß über den Antheil, den Sie an den Vorgängen des letzten Sommers haben: und ich habe noch nie so viel Ekel in meiner Seele beisammen gehabt, wie jetzt, bei dem Gedanken, daß solch ein schleichender verlogen heimtückischer Gesell jahrelang als mein Freund hat gelten können. Dies heiße ich ein Verbrechen und nicht nur an mir — sondern zu oberst an der Freundschaft und selber noch am hohlsten Namen „Freundschaft“. Pfui, mein Herr! Man wird sich vor Ihnen hüten müssen, und nicht einmal wie vor einem anständigen Bösewicht, sondern wie vor einem unanständigen! Also von Ihnen stammt die Verunglimpfung meines Charakters, und Frl. S<alomé> ist nur das Mundstück, das sehr unsaubere Mundstück Ihrer Gedanken über mich gewesen? Sie sind es, der, in meiner Abwesenheit natürlich, von mir wie von einem gemeinen und niedrigen Egoisten redet, der immer darauf aus sei, Andre auszubeuten? Sie sind es, der behauptet hat, ich habe unter der Maske der Idealität in Bezug auf Frl. S<alomé> die schmutzigsten Absichten verfolgt? Sie sind es, der über meinen Geist zu äußern wagt, ich sei verrückt und wisse nicht, was ich wolle? Nun verstehe ich freilich diesen ganzen Handel besser, der mich beinahe den achtungswürdigsten und mir nächststehenden M<enschen> entfremdet hätte: Niemand konnte je begreifen, wie ich auf die Seite solcher M<enschen>) treten konnte, die sich wahrscheinlich schon überall durch falsches Spiel gegen mich verdächtig gemacht haben. Je nun, ich habe meinen Freund zu vertreten geglaubt, wenn ich Sie eine ganze Reihe von Jahren hindurch vertheidigt und gegen Mißtrauen geschützt habe: und ich hatte dazu genug Anlaß, da Sie nicht zu denen gehören, welchen Vertrauen entgegengebracht wird. Vielleicht hat mir in den letzten 7 Jahren Nichts so im Wege gestanden, als eben dies, daß ich Sie in Schutz nahm. In der That, in der Menschen-Kennerei hab ich’s, nach dieser Probe zu schließen, nicht weit gebracht, und ich errathe, wie vielen Hohn und Spott Sie in dieser Hinsicht gegen mich schon haben laut werden lassen. Bravo! Aber ich will lieber von solchen M<enschen> wie Sie sind, verhöhnt werden, als daß ich sie verstünde. In der That, ich verstehe gar nicht mehr, was Sie von mir und mit mir gewollt haben. R<ichard> W<agner> warnte mich ein Mal vor Ihnen und sagte: „der wird einmal schlecht an Ihnen handeln, der führt Nichts Gutes im Schilde.“
Nachdem Sie diesen Brief geschrieben haben, bleibt gar kein Zweifel mehr über Ihren Charakter: Wir wollen uns bei Frl. S<alomé> bedanken, daß sie zuerst den Schleier von diesem Isisbilde gehoben hat. — Ich aber habe Sie Jahrelang für rechtschaffen gehalten und in diesem Punkte gegen Jedermann vertheidigt! Es steht schlimm mit meiner Menschenkennerei! — es ist kein Zweifel: und Sie haben allen Grund, über mich zu lachen.
ich hätte große Lust, Ihnen mit ein paar Kugeln eine Lektion in der praktischen Moral zu geben: und vielleicht erreiche ich im günstigsten Falle, Sie ein für alle Mal von der Beschäftigung mit Moral abzubringen — —: dazu nämlich mein Herr Dr. Rée gehören nur reine Hände aber nicht Schlammfinger!