1883, Briefe 367–478
471. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Genua, Anfang November 1883>
Mein liebes Lama, bis jetzt war es elend und ekelhaft, und wenn ich Dir dies schreibe, so will ich damit nicht Dich etwa auffordern, über Recepte nachzudenken, wie mir aufzuhelfen ist. Ich muß mir aufhelfen, Niemand Anderes — und auch mein Recept muß ich finden und mir nichts geben lassen. (Im Gleichnisse zu reden: es muß mir gehen wie mit dem Kali phosphoricum — ich will mein Heilmittel selber erst entdecken. Beiläufig: Dr. Breiting wendet es seitdem mit „entschiedenem Erfolge“ an —) Von der Schwere der Aufgabe, die auf mir liegt, hat Niemand eine Vorstellung; und wenn Jemand sich dieselbe etwa unter der Form einer litterarischen Arbeit, z. B. dem Fertigmachen meines Zarathustra denkt, so macht mir das beinahe Übelkeit und Lach- oder Brechreiz — so „zwider“ ist mir alle Litteratur-Macherei; und der Gedanke, zuletzt gar unter die Schriftsteller gerechnet zu werden! gehört zu den Dingen bei denen es mich schüttelt. Lies, meine liebe Schwester, recht viel in „Morgenröthe“ und „fröhlicher Wissenschaft“, den inhalt- und zukunftsreichsten Büchern, die es giebt —; in Deinen letzten Briefen war Mancherlei über „egoistisch“ und „unegoistisch“, was nicht mehr von meiner Schwester geschrieben sein sollte. Ich unterscheide vor Allem starke und schwache Menschen — solche, die zum Herrschen und solche, die zum Dienen und Gehorchen, zur „Hingebung“ berufen sind. Was mich an dieser Zeit anekelt, ist die unsägliche Schwächlichkeit Unmännlichkeit Unpersönlichkeit Veränderlichkeit Gutmüthigkeit, kurz die Schwäche der „Selbst“-sucht, die sich gar noch als „Tugend“ drapiren möchte. Was mir bisher wohlgethan hat, war der Anblick von Menschen eines langen Willens — die Jahrzehnde lang schweigen können und sich nicht einmal deshalb mit moralischen Prunkworten aufputzen —, etwa als „Helden“ oder „Edle“, sondern die ehrlich sind, an Nichts besser zu glauben als an ihr Selbst und ihren Willen, dasselbe den Menschen einzudrücken* für alle, alle Zeit.
Pardon! Was mich an R<ichard> W<agner> anzog, war dies; insgleichen lebte Schopenh<auer> nur in einem solchen Gefühle.
Und nochmals Pardon, wenn ich hinzufüge, daß ich ein Wesen solcher Art voriges Jahr gefunden zu haben glaubte, nämlich Frl. S<alomé>; ich habe sie für mich durchgestrichen, als ich endlich fand, daß sie nicht mehr wolle, als es sich auf ihre Weise behaglich zu machen, und daß die prachtvolle Energie ihres Willens nur auf ein so bescheidenes Ziel gerichtet sei — kurz daß sie darin zur Gattung Rée gehört. (Ich will noch der Billigkeit wegen hinzufügen, daß sie ebenso wie Rée eine für mich sehr anziehende Eigenschaft besitzt, nämlich in Bezug auf sich, die Motive ihres Handelns usw. von einer vollkommenen Schamlosigkeit zu sein. Weißt Du, es leben vielleicht in jedem Zeitalter kaum 5 Menschen, die diese Eigenschaft haben und zugleich Geist genug, um sich ausdrücken zu können. (Zu ihnen gehörte Napoleon.)
Ich weiß vielleicht besser als irgend Jemand auch noch unter den starken Menschen Rangordnungen zu machen nach der Tugend; so gewiß unter den Schwachen es noch hundert Arten und sehr artige und liebenswürdige giebt — gemäß den Tugenden, die den Schwachen zukommen. Es giebt starke „Selbste“ deren Selbstsucht man beinahe göttlich nennen möchte (z. B. die Zarathustra’s) — aber jede Stärke ist schon an sich etwas für den Blick Labendes und Beseligendes. Lies Shakespeare: er steckt voll solcher starker Menschen, roher harter mächtiger Granit-Menschen. An diesen ist unsre Zeit so arm - - - und nun gar an starken Menschen, die Geist genug hätten für meine Gedanken!
Taxire also den Verlust, den ich in diesem Jahre erlitten habe, nicht zu niedrig. — Du kannst Dir nicht denken, wie einsam und „verborgen“ ich mir immer unter all der liebenswürdigen Tartufferie jener Menschen vorkomme, die Du „Gute“ nennst: zB. Malvida oder auch Schücking’s, Heinze’s, Seydlitzens usw. usw. und wie es in mir mitunter schreit nach einem Menschen, der redlich ist und reden kann, sei es selbst ein Scheusal, wie Lou. Natürlich wären mir Halbgötter zur Unterhaltung erwünschter. — —
Nochmals Pardon, ich schreibe Dir dies aus dem allerherzlichsten Herzen und weiß wahrhaftig wie herzensgut Du es mit mir meinst. — Ah diese verfluchte „Einsamkeit“!
FN.
Stein ist zu jung noch für mich, den würde ich verderben. Köselitzen hätte ich beinahe verdorben — ich habe 1000 Rücksichten gegen ihn nöthig.
Sende mir unter Kreuzband poste restante den Gsell-Fels (60 Tage Italien) — Ich sende Dir nächstens Paraguay-Thee. Zum 16. November sende einen Zarathustra II an Overbeck. — Lorentz in Leipzig hat doch die Rhein.-Museums? —
Die besten Grüße meiner lieben Mutter.