1883, Briefe 367–478
407. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 27. April 1883>
Lieber Freund,
jetzt ist die Correctur zu Ende: ich drücke Ihnen die Hand! Wie gut Sie verstehen zu corrigiren, und wahrhaftig nicht nur meine Texte, sondern me ipsum — das bewies mir wieder Ihr herrlicher letzter Brief.
Ich hätte Ihnen jene häßlichen Dinge nicht schreiben sollen: zumal sie ganz unvollständig und ungenügend sind, um Ihnen die Qual und Melancholie dieses Winters zu erklären. Was liegt an schiefen Urtheilen über mich! — so habe ich selber in jeder hellen Stunde empfunden. Viel schwerer drückten auf mich eine Anzahl widerlich-schauerlicher Thatsachen, deren Mitwisser ich geworden war, ohne irgend Etwas dabei zu thun zu haben. Am schlimmsten aber litt ich an einem verschwiegenen Ehrenhandel, aus dem ich lange keinen Ausweg sah als meinen Tod. — Zuletzt kam der Tod Wagners. Was riß damit Alles in mir auf! Es ist meine schwerste Probe gewesen, in Bezug auf Gerechtigkeit gegen Menschen — dieser ganze Verkehr und Nicht-Mehr-Verkehr mit Wagner; und mindestens hatte ich es zuletzt hierin zu jener „Indolenz“ gebracht, von der Sie schreiben. Was kann freilich melancholischer sein als Indolenz, wenn ich an jene Zeiten denke, wo der letzte Theil des Siegfried entstand! Damals liebten wir uns und hofften Alles für einander — es war wirklich eine tiefe Liebe, ohne Nebengedanken. —
Jetzt, lieber Freund, will ich zusehn, wie ich alle meine persönlichen Verhältnisse wieder in Ordnung bringe. Meine Schwester hat mir von Rom aus geschrieben, und auf das Versöhnlichste: — zum Danke dafür will ich jetzt über Rom reisen.
Im Übrigen habe ich mir jetzt diesen Gesichtspunkt vor die Seele gestellt: je mehr man mich vergißt, um so besser hat es mein Sohn, als welcher heißt Zarathustra. Woraus sich ergiebt, daß ich ein noch verborgeneres Leben vor mir habe als mein bisheriges war. Von Herzen dankbar
Ihr Freund Nietzsche.
(Ich reise nächsten Donnerstag Nachts, den 3 Mai)