1883, Briefe 367–478
405. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 21. April 1883>
Lieber Freund, in Hinsicht auf Ihre Karte erlaube ich mir, nicht ohne etwas Ironie, Schopenhauers Satz zu citiren: „Moral predigen — ist leicht“.
Ihre Bemerkung über „Räderwerk“ und „Organismus“ finde ich wahr. Es ist ein curiosum: ich habe den Commentar früher geschrieben als den Text. Versprochen ist Alles schon in „Schop<enhauer> als Erz<ieher>“; es war aber ein gutes Stück Weg von „Menschl<iches>, Allzum<enschliches>“ bis zum „Übermenschen“ zu machen. Wenn Sie jetzt einen Augenblick an die „fröhl<iche> Wiss<enschaft>“ zurückdenken wollen, so werden Sie lachen, mit welcher Sicherheit, ja impudentia darin die bevorstehende Geburt „annoncirt“ wird. —
Auf die Gefahr hin, Ihnen einen Augenblick des Ekels zu machen und unter der Bedingung, daß Sie diesen Brief sogleich verbrennen, rechtfertige ich mich wegen des Wortes „Verachtung“, das Sie zu stark und unglaubwürdig finden. Ich habe mich nie von der Meinung Anderer über mich führen lassen; aber mir fehlt die Menschenverachtung und die glückliche Mitgift des Bärenfells — und so bekenne ich, zu allen Zeiten des Lebens sehr an der Meinung über mich gelitten zu haben. Bedenken Sie, daß ich aus Kreisen stamme, denen meine ganze Entwicklung als verwerflich und verworfen erscheint; es war nur eine Consequenz davon, daß meine Mutter mich voriges Jahr einen „Schimpf der Familie“ und „eine Schande für das Grab meines Vaters“ nannte. Meine Schwester schrieb mir einmal, wenn sie katholisch wäre, so würde sie in ein Kloster gehn, um den Schaden wieder gut zu machen, den ich durch meine Denkweise schaffe; ja sie hat mir offne Feindschaft angekündigt, bis zu jenem Zeitpunkte, wo ich umkehren und mich bemühen werde, „ein guter und wahrer Mensch zu werden“. Beide halten mich für einen „kalten hartherzigen Egoisten“, auch Lou hatte von mir die Meinung, bevor sie mich näher kennen lernte, ich sei „ein ganz gemeiner niederer Charakter, immer darauf aus, Andre zu meinen Zwecken auszubeuten“. Cosima hat von mir gesprochen als von einem Spione, der sich in das Vertrauen Anderer einschleicht und sich davonmacht, wenn er hat, was er will. Wagner ist reich an bösen Einfällen; aber was sagen Sie dazu, daß er Briefe darüber gewechselt hat (sogar mit meinen Ärzten) um seine Überzeugung auszudrücken, meine veränderte Denkweise sei die Folge unnatürlicher Ausschweifungen, mit Hindeutungen auf Päderastie. — Meine neuen Schriften werden an den Universitäten als Beweise meines allgemeinen „Verfalls“ ausgelegt; man hat eben etwas zuviel von meiner Krankheit gehört. Aber das thut mir weniger wehe, als wenn mein Freund Rohde sie als „kalt-behaglich“ empfindet und als „wahrscheinlich sehr zuträglich für die Gesundheit“. — Zuletzt: jetzt erst, nach der Veröffentlichung des Zarathustra, wird das Ärgste kommen, denn ich habe, mit meinem „heiligen Buche“, alle Religionen herausgefordert.
— Rée ist immer gegen mich von einer rührenden Bescheidenheit gewesen, dies will ich Ihnen ausdrücklich bekennen. — „Aus der Welt fort in den Wald ziehn! Punktum."
Ihr treugesinnter
Nietzsche