1883, Briefe 367–478
460. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Sils-Maria, Ende August 1883>
Zunächst, lieber alter Freund, noch eine Erinnerung aus der Zeit, wo ich eifrig genug Democritea und Epicurea trieb — eine auch für Philologen noch unerschöpfte Welt der Forschung! Sie wissen: die Bibliothek in Herculanum, deren Papyrus man äußerst langsam und mühselig zum Reden bringt, ist die Bibliothek eines Epicureers; also es giebt Hoffnungen für die Aufdeckung ächter Schriften Epicur’s! Ein Stück aus einer solchen ist zB. von Gomperz (in den Berichten der Wiener Academie) entziffert worden: es handelt von „der Freiheit des Willens“ und ergiebt als (wahrscheinliches) Resultat, daß Epicur ein heftiger Gegner des Fatalismus war, aber dabei — Determinist: — was Ihnen Vergnügen machen wird! (Damals trieb ich die Atomenlehre bis hin zum Quartanten des Jesuiten Boscovich, der zuerst mathematisch demonstrirt hat, daß die Annahme erfüllter Atompunkte eine für die strengste Wissenschaft der Mechanik unbrauchbare Hypothese sei: ein Satz, der jetzt unter mathematisch geschulten Naturforschern als kanonisch gilt. Für die Praxis der Forschung ist er gleichgültig.)
Gestern kamen, von Naumann gesandt, die Aushängebogen des zweiten Z<arathustra> an; beim Durchsehen derselben fand ich 4 Druckfehler, welche ich Ihnen mittheile, für die einstmalige Möglichkeit einer zweiten Auflage, welche Sie wohl erleben werden, ich aber nicht! p. 6 oben muß es heißen: Denkbarkeit, nicht Dankbarkeit.
p. 7 ganz unten euch, nicht auch.
p. 38 Rosenhänge, nicht Rosengänge
p. 44 schreien, nicht schreie.
Sonst nimmt sich das Buch gut und reinlich aus. Ich bin noch nicht zu einem objektiven Eindruck des Ganzen gelangt; doch wollte es mir scheinen, daß es einen nicht geringen Sieg über den „Geist der Schwere“ darstelle, in Hinsicht darauf, wie schwer die Probleme, um die es sich handelt, darzustellen sind. Daß der erste Theil einen Ring von Gefühlen umfaßt, der für den Ring von Gefühlen, die den zweiten Theil ausmachen, eine Voraussetzung ist — auch das erscheint mir leicht erkennbar und „gut gemacht“, um wie ein Tischlermeister zu reden. Im Übrigen habe ich alles Schwere und Schwerste noch vor mir. Nach einem ziemlich genauen architektonischen Überschlag des Ganzen giebt es noch ebenso viel als bisher — ungefähr noch 200 Seiten. Gelingt es mir so, wie mir — trotz der fürchterlichsten Gegnerschaft, die ich im Herzen gegen das gesammte Zarathustra-Gebilde mit mir herumschleppe — die ersten zwei Theile gelungen erscheinen, so will ich ein Fest feiern und vor Vergnügen dabei sterben. Pardon!
Wahrscheinlich hätte ich, wenn ich dieses ganze Jahr meine Seele heiter und hell gehabt hätte, aus artistischen Motiven die Farben der beiden ersten Theile dunkler, finsterer und greller gewählt — in Hinsicht auf das, was den Schluß macht. Aber dies Jahr war mir das Labsal heitrerer und luftigerer Farben zum Leben nothwendig; und so habe ich im zweiten Theile beinahe wie ein Possenreißer meine Sprünge gemacht. — Im Einzelnen ist unglaublich Vieles persönlich Erlebte und Erlittne darin, das nur mir verständlich ist, — manche Seiten kamen mir fast blutrünstig vor.
Es gehört für mich übrigens zu den noch räthselhaften Thatsachen, daß ich wirklich in diesem Jahre beide Theile gemacht habe. Ein Bild, das fast in allen meinen Schriften einmal vorkommt „über sich selber erhaben“ — ist zur Wirklichkeit geworden — und — oh wenn Sie wüßten, was hierbei sich selber zu bedeuten hat! Sie denken hundert Mal zu gut von mir, Freund Köselitz! —