1883, Briefe 367–478
402. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 17. April 1883>
Nun machen gar noch Sie, lieber Freund, „spanische Schlösser“ wie man in Frankreich sagt — und zwar neuspanische, mexikanische. Ich freue mich darüber! Wir werden dem jetzigen Europa fremd; damit dies Gefühl ein positivum werde, etwas Kräftiges und Schaffendes, wäre es freilich rathsam, es mit der räumlichen Entfremdung zu verstärken. Inzwischen haben wir Beide Grund zu warten: und ich wahrscheinlich doch eher in Barcellona als in Basel. Man verspricht mir für B<arcelona> reinen Himmel und wesentlich nördliche Winde; das Neueste aber ist, daß Genua sich eine direkte allwöchentliche Verbindung mit B<arcelona> herstellt — eine Folge der Gotthardbahn — wodurch uns Barcellona (c. 30 Stunden Fahrt) so nahe gerückt ist wie Neapel. — Ich bemerke ausdrücklich, daß bei dem Overbeckschen Vorschlage gar nicht der Gesichtspunkt materieller Versorgung maaßgebend gewesen, vielmehr der einer Beschwichtigung des Gemüths. Das letzte Jahr hat mir auf Ein Mal so viele Anzeichen davon gegeben, daß man (eingerechnet meine „Freunde“ und Angehörigen) mich, mein eigentliches Leben und Thun, verachtet; und ich bin nicht „gemacht“ zum Ertragen der Verachtung. In der That ist es äußerst zweifelhaft, ob ich jetzt ein „nützlicher“ Mensch bin; wer mich nicht als einen „schädlichen“ ansieht, der doch ganz gewiß als einen höchst überflüssigen Nichtsthuer. Mit „Zarathustra“ gerathe ich nun gar noch unter die „Litteraten“ und „Schriftsteller“, und das Band, das mich mit der Wissenschaft verknüpfte, wird als zerrissen erscheinen. —
Bemerken Sie doch, lieber Freund, daß Heinze bei weitem mein bester Fürsprecher in Universitätskreisen ist: er fällt damit auf und setzt sich dem Argwohne aus. Ich habe ihn gern: es ist eine sehr reinliche wohlmeinende und gerade Art. In Schulpforta war er noch mein Lehrer. Daß er nach Basel berufen wurde, war wesentlich mein Werk; und da ereignete sich das curiosum, daß ich, damals Dekan der philosophischen Fakultät, meinen früheren Lehrer „einzuführen“ hatte. —
Mit Rée habe ich „abgeschlossen": d. h. ich habe mir die Widmung seines Hauptwerks — verbeten. —
Ich will mit Niemandem mehr verwechselt werden.
Meine Erfahrungen in den letzten Wochen haben mir bestätigt, daß die 2-jährige absolute Enthaltung vom Verkehre hier in Genua das Hauptmittel meiner leiblichen Genesung gewesen ist. Die ärmlichste Einsamkeit soll mir recht sein: aber, nochmals, ich will nicht verwechselt werden.
Jene vorgeschlagene Basler Existenz ist mir nicht sicher genug, gerade auch in Hinsicht auf „Beschwichtigung des Gemüths“.
Ich habe, wohlerwogen, noch die Mittel, um 10 Jahre in meiner Weise zu leben. Das kommt von der Sparsamkeit. —
(Neulich imponirte mir ein buffo-Duett durch seinen Geist: hinterher hörte ich, daß es aus der Cenerentola sei.)
Treulich Ihr Freund N.
Von allen Menschen, die ich kenne, sind Sie der Einzige, an dessen Zukunft ich glaube und dessen Werden wirklich Etwas mit meinem Werden Gemeinsames hat. Deshalb darf ich Sie schon gelegentlich um Rath fragen. —
Ich lerne eigentlich jetzt erst Zarathustra kennen. Seine Entstehung war eine Art Aderlaß, ich verdanke ihm, daß ich nicht erstickt bin. Es war etwas Plötzliches, die Sache von 10 Tagen.