1883, Briefe 367–478
440. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, kurz nach Mitte Juli 1883>
Mein liebes liebes Lama,
eben habe ich, in einem Briefe an Georg Rée, den ich in Leipzig kennen gelernt habe, meine Beziehungen zu Paul R<ée> abgebrochen.
Stelle Dir vor! Der Übelstand bei dieser ganzen Sache war für mich, daß ich den besten Theil der facta nicht wußte: während sie Dir wahrscheinlich allzugegenwärtig waren, da Du jenen Scenen beigewohnt hast — ich aber nicht! — Mit R<ée> hätte ich ja unter keinen Umständen wieder verkehren können, wenn das Bild, welches Frl. Salomé von mir entwarf, in Wahrheit auf ihn zurückgeht. Deine beiden letzten Briefe haben mir erst Lichter angezündet! Ich wußte auch das Stärkste von dem nicht, was sie über Rée selber geurtheilt hat. Welche Hülfe wäre das mir in diesem Winter gewesen! —
Seit diese Sache wieder losgelassen ist, leide ich daran wie an einem Wahnsinn und habe bei Tag und Nacht keine Ruhe. Ich meinte, es sei genug, daß ich diesen Winter fünf Mal mehr darum ausgestanden habe als genügt, einen normalen Menschen zum Selbstmord zu bringen. Und nun erst sind wir in das sanglante Stadium der Sache getreten! Es ist ein Ehrenhandel in bester Form geworden.
Ich merkte der Sache in den ersten fünf Minuten ihren lebensgefährlichen Charakter an; und als ich von Tautenburg fortgieng, war ich äußerst glücklich, einer solchen Sache durch sehr viel Selbst-Überwindung eine leidlich harmlose Wendung gegeben zu haben (auf meine Unkosten natürlich; was ich aber nicht gar zu schwer taxirte) Was liegt daran, daß man einem Manne Etwas als Schwäche gegen ein Mädchen auslegt! — in diesem Punkte nehmen es Männer und Frauen nicht gar so streng. Es schien mir aber meiner sehr würdig, statt auf Rache und Vergeltung, auf den Nutzen der Person hinzuarbeiten, welche sich schlecht gegen mich benommen hatte.
Schließlich, schließlich, mein liebes Lama, blieb ich als der Einzige übrig, „der sich schlecht benommen hatte“; — seit Deinem Schritte, aus dem geschlossen wurde, daß meine nächsten Angehörigen nicht an meine „Idealität“ in dieser Sache glaubten, wendete sich Alles zu meinen Ungunsten. —
Pardon! Es soll das letzte Wort in der Sache zwischen uns sein, deren Consequenzen ich nunmehr stillschweigend über mich ergehn lassen will.
Schmeitzner telegraphirte mir Dienstag Nachmittag: woraus ich schließe, daß es doch erst Dein zweiter Brief war, der ihn zur Raison gebracht hat. Es ist mir ganz unschätzbar, daß ich jetzt noch diese Drucksache abmachen kann; ich bin wie Einer, der keine Zeit mehr hat. Also nochmals meinen allerinnigsten Dank für diese Wohlthat! —
Was meine Lebensweise betrifft: so erzähle ich Dir als Curiosum, daß ich seit wir uns nicht gesehn haben, Mittag für Mittag (außer wenn ich krank war) Dasselbe gegessen habe (es giebt einfach um diese Stunde nichts anderes): nämlich: reine Bouillon (2 Teller), ein Beefsteak mit Piselli (das kostet zusammen 2 fr. 50 cs. — was Dir einen Begriff von den hiesigen Preisen geben mag!)
Deuschland ist mir unsäglich verleidet. Vielleicht gehe ich den Winter nach San Remo, wo es viel mehr heitere Tage giebt als in der Umgebung Genua’s. Und es ist doch nur ein Katzensprung weiter. — Bevor ich den dritten und letzten Theil Zarathustra nicht fertig habe, ist das Leben für mich noch unerlöst. Dies privatissime!
In Treue Dein Bruder.
Zwei Briefe an Dich und einen Brief an Paul Rée, die ich inzwischen schrieb, habe ich nicht abgesendet, sondern wieder zerrissen. — Schone mich, bitte! —