1883, Briefe 367–478
444. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, Ende Juli 1883>
Meine liebe Schwester,
Dein Brief hat mir gut gethan — etwas, das jetzt selten ein Brief bei mir hervorbringt. Was Herrn Schmeitzner betrifft: so wird Deine Vermuthung berechtigt sein. Alles erwogen, war er in einer greulichen Klemme und mußte schon nolens volens den 2ten Zarathustra sofort acceptiren; er hat auf einer Karte gemeldet, daß das Ms. sofort an die Druckerei abgeht. Es ist beinahe zum Lachen, wie Jemand gezwungen werden kann, gerade das zu thun, was er am wenigsten thun möchte (nämlich: noch Etwas drucken und seine Schulden vermehren) Auf die Dauer freilich bin ich der, welcher am schlimmsten dabei fährt: denn, ich sehe es deutlich kommen — eines Tages ist der gute excentrische Bursche banquerott, und meine Ersparnisse sind dahin (in Wahrheit: verwendet zum Besten der antisemitischen Agitation — was wieder der Humor an der Sache ist!)
Übrigens hat er auch als Politiker Unglück, und ich verstehe seinen Stoßseufzer in dem Briefe an Dich nur gar zu gut! — Ich gratulire aufrichtig dem Dr. Förster, daß er noch zur rechten Zeit Europa und die Judenfrage hinter sich gelassen hat. Denn wehe einer Partei, welche genöthigt ist, nach so kurzem Bestände schon einen solchen Tisza-Prozeß auf ihr Conto zu schreiben! Ja, wenn der verkommenste Adel der Welt, der ungarische, zu einer Partei gehört, da ist Alles verloren. —
Ich war dieser Tage etwas verstimmt über Frau Overbeck, welche mir, gewiß in der „wohlmeinendsten“ Absicht, aber doch ungeschickt und unbescheiden bis zum Exzeß, einen kleinen moralischen Brief geschrieben hat über „Schwäche“, „Närrisch-sein, Allzumenschliches“ usw. und mit der Versicherung „ich kann mich noch immer nicht überzeugen, daß ich an Ihnen ernstlich irre zu werden hätte“: nebst der Belehrung, daß „man nur durch Fehler und Schwächen zu seinen höchsten Tugenden komme“. Man kann gar nichts Dümmeres thun als klagen: man diskreditirt sich bei seinen Freunden und diskreditirt sich seine Freunde.
Ich habe mir diese Sache ad notam genommen — aber sehr artig geantwortet, wie sich von selbst versteht (auch mit der Bemerkung, daß wir (Du und ich) jetzt sehr gute Freunde sein, vielleicht bessere als je, und daß Du, wenn Du erreichtest, daß Frl. S<alomé> nach Rußland zurückgeschafft würde, wahrscheinlich mehr Nutzen stiftetest, als ich mit meinem Ascetismus, der auf alle Vergeltung verzichten wollte)
Inzwischen gab es einen Höllen-Tag, in Folge dessen ich ein paar Tage krank war. Ich hatte eben zu Mittag gegessen, da meldet mir der Wirth meines Hotels „um drei Uhr kommt Familie Rée, 8 Personen“. Ich kann nicht beschreiben, was die nächste Stunde mir Alles durch den Kopf gieng: ich lief zur Post, es war strömendes Regenwetter, ich bestellte für den nächsten Morgen mir einen Platz, ich wollte nach Basel, endlich mußte ich zu Bett: und wahrhaftig, ich zitterte bei jedem Geräusch im Hause. Ich bin ganz und gar nicht gemacht zur Feindschaft. — Zuletzt ergab sich, daß ein Mißverständniß, ein ähnlich klingender Name an Allem schuld war. Aber ich habe doch, in Folge dieses Tages, meinen Brief an Georg Rée abgesandt. —
Es ist hier, seit Wochen! äußerst kalt, die Berge tief bis hinab beschneit, die Fremden unzufrieden. Ich selber bin sehr arbeitsam; wenn ich aus meiner Arbeit zu mir komme, bin ich aber die Beute der Melancholie — das ist nicht zu ändern! Ich sehe und weiß, wie groß meine Vereinsamung ist; und diese unheilvolle Geschichte trennt immer mehr Menschen von mir ab. — Es gab in diesem Frühjahr auch von Overbeck’s Seite einen Brief, den ich mir hinter die Ohren geschrieben habe: er demonstrirte, ich hätte als Schriftsteller jedes erlaubte Maaß dessen überschritten, was die Leser sich gefallen lassen könnten und dürfe mich gar nicht wundern, wenn man sich gegen mich wende (nebst Bemerkungen darüber, daß meine Aphorismen-Form auch die beste Geduld zuletzt zur Verzweiflung bringe: ungefähr war dies der Sinn.) Früher würde er sich das Alles nicht erlaubt haben zu sagen, aber nach dieser Geschichte darf man’s!
Nächstens schreibe ich auch unsrer guten Mutter, deren Brief von gestern mich wahrhaft gerührt hat. Aber bis Mitte Sept. bin ich hier fest gemiethet und will weiter arbeiten.
Dein Bruder F.