1883, Briefe 367–478
392. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 22. März 1883>
Mein lieber Freund,
gestern Abend hörte ich wieder Carmen — es war vielleicht die zwanzigste Aufführung in diesem Jahre, das Haus gestopft voll, wie immer: es ist hier die Oper der Opern. Sie sollten die Todtenstille hören, wenn den Genuesen ihr Leibstück gespielt wird — das Präludium des 4ten Aktes, und das Bis-Geheul hinterdrein. Auch die „Tarantelle“ gefällt ihnen sehr. Nun, alter Freund, auch ich war wieder ganz glücklich, es bewegt sich bei dieser Musik irgend ein tiefer tiefer Grund in mir, und ich nehme mir immer dabei vor es auszuhalten, und lieber noch meine äußerste Bosheit auszuschütten als an mir — zu Grunde zu gehen. Ich dichtete fortwährend dabei Dionysos-Lieder in denen ich mir die Freiheit nehme, das Furchtbarste furchtbar und zum Lachen zu sagen: dies ist die jüngste Form meines Wahnsinns. Wenn ich nur diesem Herrn Gumbert, Pardon! Bungert etwas von dieser Musik beibringen könnte, hinzu zu seinem Schumann-Brahmsschen Schwebe-Idealismus, den ich auf die Dauer nicht aushalte: es fehlen die Knochen. Ich glaube, wir haben uns bereits etwas von einander „entfernt“; und als ich Carmen wieder hörte, war ich noch „entfernter.“
Ah diese verfluchte Gesundheit! Ich liege zu Bett und stehe auf, um mich wieder zu legen. Noch kein Spaziergang. Alle 2 Tage schwätze ich mit Dr. Breiting über Physica und Medica, — das thut mir wohl.
Sie schrieben zuletzt vom „Hochgebirge“? So denke ich auch; ich will an die Südseite des Montblanc, nach Cour majeur. Aber vor Mai geht das nicht. Und wie soll ich bis Mai noch leben! So viele Tage!
Verzeihung, daß ich so oft schreibe: ich vertraue jetzt so wenig Menschen.
In Treue
F N.