1886, Briefe 655–784
768. An Reinhart von Seydlitz in München
Nizza, pension de Genève, pet. rue St. Etienne. 26. Oktober 1886.
Lieber Freund,
schönsten Dank! — Aber ich will nicht nach Paraguay, wohin man mich einladet. Viel eher noch nach München: vorausgesetzt, daß ich wieder heiterer und „menschenfreundlicher“ werde, als ich jetzt gerade bin.
Was für ein schwermüthiger Herbst! Bleigewichte überall, Niemand, der mich etwas aufhellt, — und nichts um mich als meine alten Probleme, die alten rabenschwarzen Probleme! — Hast Du Dich in meinem „Jenseits“ umgethan? (Es ist eine Art von Commentar zu meinem „Zarathustra“. Aber wie gut müßte man mich verstehn, um zu verstehn, in wie fern es zu ihm ein Commentar ist!) Ein Buch für die Menschen umfänglichster Bildung, z. B. Jacob Burckhardt und Henri Taine, die ich einstweilen für meine einzigen Leser halte: und zuletzt nicht einmal ein Buch für sie —, sie haben weder die gleiche Noth noch den gleichen Willen mit mir gemein. — Dies ist Einsamkeit: — ich habe Niemanden, der mit mir mein Nein und mein Ja gemein hätte!
Die Reise nach Corsica gab ich auf, weil mir der Mensch, der mich dahin begleiten sollte, gänzlich bei näherer Besichtigung zuwider wurde. Meine Drei-Viertels-Blindheit zwang mich, alles eigne Experimentiren zu lassen und schnellstens nach Nizza zu flüchten, das meine Augen „auswendig gelernt“ haben. Ja, gewiß! Es hat mehr Licht, als München! Bis jetzt weiß ich außer Nizza und dem Engadin keine Gegend, wo ich es noch aushalte, täglich ein paar Stunden mit den Augen thätig zu sein. Aber auch damit geht es vielleicht mit diesem Winter zu Ende. — Habe nur Geduld: ich komme schon noch nach München.
Vielleicht giebt es daselbst ein sehr lustiges weibliches Geschöpf, mit dem ich lachen kann? Ich muß das Lachen nachholen.
Von Paraguay aus die herzlichsten Grüße an Dich und Deine liebe Frau, der ich wünsche bestens empfohlen zu sein.
Treulich
Dein Nietzsche.
Den Wagnerianern (namentlich Levi) in München allesammt meine besten compliments, sincères et tendres!