1886, Briefe 655–784
720. An Franz Overbeck (Entwurf)
<Sils-Maria, 14. Juli 1886>
Auch ich, mein lieber Freund, hätte sehr gern das Jahr Dich wiedergesehn; aber ich sehe schon, daß es nichts wird. Mein Wille, den Sommer etwa in Thüringer Wald, den Herbst in M<ünchen> zu verleben, scheiterte an der force majeur<e> (oder mineur<e>) meiner Gesundheit. Es war bis jetzt eine lange Geduldsprobe; ich habe, wie ich glaube, nicht dabei gemuckst; aber jetzt spüre ich die schrecklichen Strapatzen und ihre Nachwirkungen: statt mich zu erholen, wie ich’s nöthig hätte, habe ich mich mit diesem deutschen Aufenthalt heruntergebracht
Fritzsch und Schm<eitzner> haben sich bisher nicht geeinigt. Dieser Tage hat Schm<eitzner> mir direkt den Antrag gemacht, ich sollte meine Litteratur für 12500 Mark abkaufen; insgleichen wollte Erlecke Geld von mir, um die Bücher an sich zu bringen. Kurz, es ist noch die alte Confusion, zu der ich stillschweige und warte. Die schändliche Vernachlässigung, der ich seitens Schm<eitzner> ausgesetzt gewesen bin, ist jetzt in volles Licht gerückt: er hat seit 10 Jahren kein Exemplar von mir an die Sortimenter vertheilt, er hatte nicht einmal ein Leipziger Commissionslager, er hat keine Anzeige gemacht, kein Redaktionsexemplar vertheilt: die Bücher (von M<enschliches,> Allzu<menschliches> an) sind immer noch nicht herausgegeben.
Meine Verhandlungen mit allen möglichen Verlegern haben mir schließlich einen einzigen Ausweg gezeigt, den ich jetzt gehe. Ich mache den Versuch, etwas von mir erscheinen zu lassen, auf meine Unkosten: gesetzt, es werden dreihundert Exemplare verkauft, so habe ich die Kosten heraus und kann eventuell das Experiment wiederholen. Die Firma C. G. Naumann giebt ihren sehr achtenswerthen Namen dazu her (es steht also darauf Verlag von C<onstantin> G<eorg> N<aumann>) Dies strengstens unter uns. Hoffentlich wird das Buch bald fertig, so daß es Dich in Deiner Sommerfrische beglücken kann, wobei ich bemerke, daß es auch noch in einem peinlich frischen Klima als sehr frisch empfunden werden dürfte.
Den Gedanken, mich ein paar Monate zur Erholung jedes Jahr in Deutschland aufzuhalten (z. B. in München) habe ich wieder zurückgelegt: und München hat nicht aufgehört, mich auf die liebenswürdigste Weise an sich zu locken: Seydlitzens, mit denen ich nach langjähriger Erfahrung herzlicher und näher stehe als je; insgleichen der ausgezeichnete Aquarellist Hans Bartels mit Frau, welche meine Installation in die Hand nehmen wollen; letzterer schrieb mir kürzlich von Schloß Berg, wie sehr sich Levi darauf freue, mich einmal den Winter über in M<ünchen> zu haben. Bei einer Jagd auf gute originelle Bücher bin ich wiederum auf etwas Münchnerisches gestoßen: auf Nägelis <Mechanisch-physiologische Theorie der> Abst<ammungslehre> (ein von den Darwinisten scheu bei Seite gelassenes Werk) etwas anderes eben daher: die Anthropogeographie <oder Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte> habe ich mir auch mitgenommen, doch nicht um mich damit lustig zu machen (er gehört dem Kreis der Gregorovius, Moritz Wagner und dergl. großthuerischen Mittelmäßigkeiten, die einander furchtbar bewundern und anräuchern)
ich muß bekennen, daß es nicht allein die klimatische Unzuträglichkeit ist, die mir jenen Plan widerräth. Ich habe Niemanden daselbst, der einen Begriff davon hätte, worum es sich bei mir handelt; und noch abgesehn von dieser Entbehrung persönlicher Sorgfalt und delicatezza, die mir es erlauben könnte, zu sein, was ich bin — wie es zur Erholung nöthig ist —, weiß ich noch weniger Jemanden, mit dem ich meine sehr unpersönlichen Sorgen und Probleme gemein hätte.
Das Leben in Deutschland ist gänzlich unzuträglich: es wirkt vergiftend und lähmend auf mich, und meine Menschenverachtung wächst jedes Mal dort in gefährlichen Proportionen, sobald ich mit „Gebildeten“ in Berührung komme. Besonders nachtheilig das Leben an den deutschen Universitäten, dem ich wieder einmal zugeschaut habe. Wirklich lieber Freund, wenn Du auch keineswegs zu beneiden bist, so bist Du doch zum Mindesten mit Deiner Lage nicht zu bejammern: sie hat etwas Feines und Vorsichtiges an sich. — —
Seit ich fort bin, habe ich eine lange Gedulds-Probe durchgemacht, die ich sobald nicht wiederholen darf. Abgesehen vom Verkehr mit meiner Mutter, die ich heiter und selbstgewisser als je in ihrem hübschen Neste wiederfand (es giebt lauter gute und glänzende Nachrichten von Südamerika) gab es kein Erlebniß und Entgegenkommen, das mich nicht gedemüthigt hätte — oder vielmehr, das mich nicht hätte demüthigen müssen, wenn ich jetzt noch leicht umzuwerfen wäre.
In einem falschen Milieu leben, seiner Lebensaufgabe ausweichen (was ich that so lange ich Philologe und Universitätslehrer war) richtet mich physisch unfehlbar zu Grunde; und jeder Fortschritt auf meinem Wege hat mich der Gesundheit auch im leiblichsten Sinne näher geführt. Jede Reise nach D<eutschland> war bisher aus dem angeführten Grunde ein Rückfall, eine Schwächung meiner Kräfte: leider waren solche Reisen aus diesem und jenem Grunde immer nöthig. Mit meiner letzten (deren schlimme Nachwirkung ich noch nicht überwunden habe) bin ich andrerseits zufrieden, weil mehreres durch dieselbe, wenn nicht in Ordnung, so doch in Klarheit gebracht worden ist — und weil von nun an solche Reisen mir erspart bleiben dürfen. Zwar hat Fr<itzsch> sich noch nicht mit Schm<eitzner> verständigen können: aber vielleicht kommt es noch dazu da F<ritzsch> großen Werth darauf zu legen scheint, den ganzen N<ietzsche> so wie den ganzen W<agner> in seinem Verlag zu haben (eine Nachbarschaft, die auch mir von Grund aus wohl thut; denn Alles in Allem gerechnet, war W<agner> der Einzige, mindestens der Erste, der ein Gefühl davon gehabt hat, worum es sich bei mir handelt. (Wovon z. B. Rohde zu meinem Bedauern nicht die blasseste Vorstellung hat, geschweige denn ein Gefühl von Pflicht gegen mich) In dieser Universitäts-Luft entarten die Besten: ich fühle fortwährend als Hintergrund und letzte Instanz selbst bei solchen Naturen wie R<ohde> die allgemeine verfluchte Wurschtigkeit und den vollkommnen Mangel an Glauben. Davon daß Einer wie ich diu noctuque incubando von Kindesbeinen an zwischen Problemen lebt, über die man schweigt und denen man gern entlaufen möchte, wer hätte dafür ein Mitgefühl? Wagner hatte es; und deshalb war Tr<ibschen> eine solche Erholung für mich; während ich jetzt keinen Ort und keinen Menschen habe, die zu einer Erholung taugten.