1886, Briefe 655–784
737. An Reinhart von Seydlitz in München
Sils-Maria Oberengadin (Schweiz), 17. August 1886.
Lieber alter Freund,
es gäbe Gründe, sich bei Dir für einen sehr guten Brief zu bedanken, in dem feine kluge Sachen standen, wie sie gerne in meine Art Ohren schlüpfen.
Hast Du bemerkt, daß ich die „kleinsten aller möglichen“ Ohren habe? Vielleicht auch die schläuesten ...
Ein Dir im Frühjahr zugedachter Besuch mißrieth mir: ich fand das artige Nest ausgeflogen. Daß ich in diesem Herbste nach München komme (wozu mich Mancherlei locken könnte —) ist inzwischen wieder unwahrscheinlich geworden. Aus meinem letzten deutschen Aufenthalte habe ich ein ressentiment noch nicht überwunden. Die „moralische Luft“ daselbst bläst gegen mich, das ist kein Zweifel. Wahrscheinlich mache ich eine Wallfahrt nach Corte auf Corsica (woselbst Napoleon zwar nicht geboren, aber — was vielleicht sehr viel mehr ist, concipirt worden ist).
Es handelt sich jetzt auch bei mir um eine conceptio: Du wirst es aus dem Umschlage meines letzterschienenen Werks errathen, welches ich Dir (wie sich von selbst versteht) zugesandt habe. Meine ganze frühere Litteratur (von „Geburt der Tragödie“ bis zum „Zarathustra“) ist jetzt in den Besitz von E. W. Fritzsch übergegangen. Derselbe hat bereits, wie Du weißt, den „ganzen Wagner“; es scheint, daß er Werth darauf legt, auch einmal den „ganzen Nietzsche“ zu haben.
Was macht die Reise nach Bologna? Und überhaupt der Japonisme? —
Es bittet Dich und Deine liebe Frau um ein herzliches und freundschaftliches Angedenken
Friedrich Nietzsche.