1886, Briefe 655–784
725. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria,> Donnerstag. <22. Juli 1886>
Meine liebe Mutter,
wenn es mir nur etwas besser gienge! Da würde ich mich auch viel hübscher für Deine allerliebste Hutschachtel bedanken, die des Guten so viel enthielt! Aber ich weiß nicht was machen: beständig magenkrank beständig indisponirt und nervös, schlecht schlafend, augenleidend, geistig müde, — ob schon bei alledem von gutem Aussehen. Es fehlt mir hier die rechte Ernährung, die ich in Nizza habe, ebenfalls das rechte Zimmer mit gutem Lichte, ebenfalls die rechte Gesellschaft: wiewohl in letzterer Hinsicht ich es eigentlich überall ungenügend habe. Man behandelt mich hier recht artig, voran meine Hausleute, welche im Namen der kleinen Adrienne sich schönstens bedanken. Dann die guten Fynns und die alte dies Mal sehr leidende und schwache Russin; dann ist auch ein sehr gescheutes Litteratur-Weibchen da, aus London, Miss Helen Zimmern, welche das Verdienst hat, Schopenhauern in England eingeführt zu haben; dann aus München 2 Gräfinnen Bothmer, dann aus Basel die Schwester von Prof. Andreas Heusler; aus Leipzig wird Prof. Leskien erwartet, mit Dr. Brockhaus — und noch eine Menge Menschen, die alle zum zweiten, dritten oder zehnten Male hier sind. Auch hat mich der alte General Simon mit Tochter besucht; während ich noch keinen Schritt weit von Sils weggekommen bin, von wegen der blendenden und staubigen Landstraße, die von hier nach St. Moritz führt: meine Augen habens mir bisher absolut verboten, dorthin zu gehn, obschon ich gerne Frau Wehmann (der Schwester Claire’s) meinen Besuch machen möchte, insgleichen meiner Tischnachbarin vom letztjährigen Nizzaer Winter. Deine Torte ist wunderschön gerathen, ich trinke Milch dazu, auch der Honig labt mich; und mit dem Halsbande hast Du sehr meinen Geschmack getroffen — nimm meinen besten Dank, meine alte gute Mutter! Neulich habe ich nicht genug mein Erstaunen ausgedrückt über Deinen kühnen Angriff auf die Wartburg: es war eine ganz große Haupt- und Staatsaktion. In Betreff der Reise nach Paraguay denke ich wie Du: die Einladung hätte mehr Sinn, wenn sie auf Grund des dortigen Sommers gemacht wäre —, zuletzt ist der Winter in Nizza wahrscheinlich doch noch schöner als der dortige, und ein Bischen unterhaltender, wie mir scheint. Zwischen Fritzsch und Schmeitzner schweigt es, zu meinem großen Leidwesen. Wahrscheinlich hat Schm<eitzner> durch Hrn. Widemann erfahren, wie sehr ich mich über die Möglichkeit, in Erleckes Hände zu fallen, entsetzt habe, — und Schm<eitzner> erwartet nun, daß ich ihm Anerbietungen mache. Darum geht er nicht auf Fr<itzsch>s Vorschläge ein. — Der Druck ist nahezu beendet, er hielt mich bisher etwas aufrecht. — Wir haben’s auch hier sehr warm gehabt; glücklicherweise fand ich 2 weiße Hosen hier im Schranke vor. Ich denke Deiner immer in großer Dankbarkeit: was hast Du Alles schon in diesem Jahre für mich gethan! —
Dein alter Sohn, nicht sehr Philosoph.