1886, Briefe 655–784
655. An Bernhard Daechsel in Sangerhausen (Entwurf)
<Nizza, kurz vor dem 2. Januar 1886>
Eben giebt mir meine Schwester ihr Argwohn zu verstehn es möchte ein von mir an Dich abgesandtes Dankeswort nicht bei Dir angelangt sein: da fällt mir ein, daß ich selber beim Empfang Deines letzten, lieben Briefs und seiner guten Wünsche den gleichen Eindruck und schwarze Hintergedanken hatte — und nun habe ich schon eine halbe Stunde auf die nachlässige und unordentliche Italiänerin räsonnirt, welche meine Besorgungen in der Stadt zu machen hat, falls ich sie nicht selber mache. Sie sagt natürlich, daß sie alle Briefe richtig in den Kasten werfe — aber — — —
Seltsam, es ist der dritte Fall in diesem Winter, daß ich auf den Gedanken gebracht werde, es möchten Briefe von mir nicht besorgt werden. Warum doch? Vielleicht der Briefmarken halber? — Gesetzt aber, mein Verdacht wäre begründet, so bliebe nichts übrig als zu wiederholen, was ich in jenem Br<ief> gesagt — und ich thue es mit herzlichem Vergnügen. Du hast mir einen großen Dienst erwiesen, mein lieber O<nkel>, denn ich zweifle nicht, daß ich ohne Deine Ermuthigung dieses energische Handeln zur rechten Stunde um mein mir wohlverdientes gesammtes Honorar für meine bisherigen Schriften gekommen sein würde: — ein Fall, der nicht nur als Geldverlust, sondern noch schlimmer in seiner moral<ischen> Consequenz auf mich fort-gewirkt haben würde.
Solche Erfahrungen „verderben den Charakter“, wie ich zu sagen pflege: und wer uns solche Erfahrungen erspart, ist also auch unser moral<ischer> Wohlthäter. Und sonderlich wir Philosophen, die wir allzugeneigt sind, unsre schlechten Erlebnisse zu generalisiren und dem gesamten Leben in die Rechnung zu schreiben, haben sehr dankbar zu sein, wenn wir ein gutes gegen ein schlechtes Erl<ebnis> eingetauscht bekommen: — nun, wir generalisiren auch diese Erfahrung viell<eicht> etwas unbesonnen, aber das ist weniger gefährlich — —