1886, Briefe 655–784
759. An Heinrich Köselitz in München
c. 400 Meter überm Meer, an der Straße, über das Joch von Portofino führend. Ruta Ligure, 10. Octob. 1886
Lieber Freund,
ein Wort aus diesem wunderlichen Welt-Winkel, wo ich Sie selbst lieber wüßte als in München. Denken Sie sich eine Insel des griechischen Archipelagos, mit Wald und Berg willkürlich überworfen, welche durch einen Zufall eines Tags an das Festland herangeschwommen ist und nicht wieder zurück kann. Es ist etwas Griechisches daran, ohne Zweifel: andrerseits etwas Piratenhaftes, Plötzliches, Verstecktes, Gefährliches; endlich, an einer einsamen Wendung, ein Stück tropischen Pinienwaldes, mit dem man aus Europa weg ist, etwas Brasilianisches, wie mir mein Tischgenosse sagt, der die Erde mehrmals umreist hat. Ich lag nie so viel herum, in wahrer Robinson-Insularität und -Vergessenheit; mehrfach auch lasse ich große Feuer vor mir empor lodern. Die reine unruhige Flamme mit ihrem weißgrauen Bauche sich gegen den wolkenlosen Himmel aufrichten zu sehn — Haidekraut rings herum, und jene October-Seligkeit, welche sich auf hundert Arten Gelb versteht — oh lieber Freund, ein solches Nachsommer-Glück wäre etwas für Sie, ebensosehr und vielleicht noch mehr als für mich! Im Albergo d’Italia (das vorzüglich reinliche Zimmer hat, leider eine italiänische Küche alla Veneziana) wohne ich für 5 frs. den Tag, tutto compreso, auch der Wein. Der Hr. Altsmann, der jetzt mit im Hôtel wohnt (Lehrer an dem Istituto technico in Genova) sagt mir, daß man viel billiger leben könne, wenn man sich ein einzelnes Zimmer in einem der hübschen ringsum zerstreuten Häuser miethe; seine zwei Mahlzeiten im Hôtel werde man für 2 1/2 frs. (vino compreso) arrangiren können.
Hierher habe ich Sie mir gedacht, mein lieber Freund, daß Sie den Muth und die Inspiration finden möchten, Ihren Lebensweg weiter zu gehn und Ihr Lebenslied immer schöner zu singen. Man kann hier das ganze Jahr sein und arbeiten, nach Urtheil und Erfahrung des Professor Altsmann; es giebt einen venticello, eine leichte spielende Vorgebirgs-Luft, welche auch den Sommer hier zu leben anräth: darauf hin giebt es viele Villen alter Seekapitäne oder Genueser, auch die eines englischen Zahnarztes (der z. B. eine kleine Wohnung von 3 Räumen, möblirt, das Jahr für 300 frs. anbietet). Gesetzt, Sie fänden aus meinen Worten etwas heraus, worauf hin Sie selbst Pläne zu machen anfiengen, so will ich Ihnen einen ausgezeichneten ernsten Deutschen in Genua nennen, der um meinetwillen Ihnen gewiß mit Rath und That entgegenkommen wird. Schreiben Sie, bitte, an mich mit dieser Adresse: Nizza (France) poste restante. —
Treulich Ihr Freund
Nietzsche.
Jener erwähnte Deutsche heißt Zilliken (Genova, Vico di Negri 4); ich will ihn morgen besuchen und ihm von Ihnen erzählen. (Er ist Kaufmann oder Banquier)
Gehen Sie, bitte, zu Maler Hans Bartels (der auch Ruta und diese Küste kennt), bringen Sie meine Grüße und vielleicht auch jene 2 Nummern des „Bund“ zum Lesen, welche Naumann Ihnen gesendet hat.
Anbei ein Brief Hegar’s über den „Hymnus an das Leben“. Ihre Mitbetheiligung habe ich absolut verschwiegen.
Lieber Freund, wäre es Ihnen möglich (vorausgesetzt, daß Sie mir eine große Weihnachts-Freude machen wollen —) jenem „Hymnus an das Leben“ ein Klavier-Arrangement angedeihn zu lassen (vierhändig, mit jenem Raffinement der Vierhändigkeit, auf welches man sich jetzt versteht und von dem ich, als ich jung war, gar nichts wußte). In diesem Falle würde ich mir erlauben, das Manuscript an Ihre Münchner Adresse zu senden.
F. N.