1886, Briefe 655–784
756. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Sils-Maria,> 24. Sept. 1886.
Verehrte Freundin.
letzter Tag in Sils-Maria; alle Vögel bereits fortgeflogen; der Himmel herbstlich-düster; die Kälte wachsend, — also muß der „Einsiedler von Sils-Maria“ sich auf den Weg machen.
Nach allen Seiten habe ich noch Grüße ausgeschickt, wie Jemand, der auch mit seinen Freunden die Jahres-Abrechnung macht. Dabei ist mir eingefallen, daß Sie seit lange keinen Brief von mir haben. Eine Bitte um Ihre Adresse in Versailles, welche ich brieflich an Fräulein B. Rohr in Basel ausgesprochen habe, ist mir leider nicht erfüllt worden. So sende ich denn diese Zeilen nach Rom: wohin ich auch vor Kurzem ein Buch adressirt habe. Sein Titel ist „Jenseits von Gut und Böse, Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“. (Verzeihung! Sie sollen es nicht etwa lesen, noch weniger mir Ihre Empfindungen darüber ausdrücken. Nehmen wir an, daß es gegen das Jahr 2000 gelesen werden darf…)
Für Ihre gütige Erkundigung bei meiner Mutter, von der ich dieses Frühjahr hörte, danke ich Ihnen von Herzen. Ich war gerade in übler Verfassung: die Wärme, an die ich Gletscher-Nachbar nicht mehr gewöhnt bin, erdrückte mich beinahe. Dazu fühle ich mich in Deutschland wie von lauter feindlichen Winden angeblasen, ohne irgend welche Lust oder Verpflichtung zu spüren, meinerseits dagegen zu blasen. Es ist einfach ein falsches Milieu für mich, was die Deutschen von heute angeht, geht mich nichts an, — was natürlich kein Grund ist, ihnen gram zu sein. —
So hat sich denn der alte Liszt, der sich auf’s Leben und Sterben verstand, nun doch noch gleichsam in die Wagner’sche Sache und Welt hinein begraben lassen: wie als ob er ganz unvermeidlich und unabtrennlich hinzugehörte. Dies hat mir in die Seele Cosima’s hinein weh gethan: es ist eine Falschheit mehr um Wagner herum, eins jener fast unüberwindlichen Mißverständnisse, unter denen heute der Ruhm Wagner’s wächst und ins Kraut schießt. Nach dem zu urtheilen, was ich bisher von Wagnerianern kennen gelernt habe, scheint mir die heutige Wagnerei eine unbewußte Annäherung an Rom, welche von innen her dasselbe thut, was Bismarck von außen thut.
Selbst meine alte Freundin Malvida — ah, Sie kennen sie nicht! — ist in allen ihren Instinkten grundkatholisch: wozu sogar noch die Gleichgültigkeit gegen Formeln und Dogmen gehört. Nur eine ecclesia militans hat die Intoleranz nöthig; jede tiefe Ruhe und Sicherheit des Glaubens erlaubt die Skepsis, die Milde gegen Andere und Anderes…
Zum Schluß schreibe ich Ihnen ein paar Worte über mich ab, die im „Bund“ (16. und 17. Sept.) zu lesen sind. Überschrift: Nietzsches gefährliches Buch.
„Jene Dynamitvorräthe, die beim Bau der Gotthardbahn verwendet wurden, führten die schwarze, auf Todesgefahr deutende Warnungsflagge. — Ganz nur in diesem Sinne sprechen wir von dem neuen Buche des Philosophen Nietzsche als von einem gefährlichen Buche. Wir legen in diese Bezeichnung keine Spur von Tadel gegen den Autor und sein Werk, so wenig als jene schwarze Flagge jenen Sprengstoff tadeln sollte. Noch weniger könnte es uns einfallen, den einsamen Denker durch den Hinweis auf die Gefährlichkeit seines Buchs den Kanzelraben und den Altarkrähen auszuliefern. Der geistige Sprengstoff, wie der materielle, kann einem sehr nützlichen Werke dienen; es ist nicht nothwendig, daß er zu verbrecherischen Zwecken mißbraucht werde. Nur thut man gut, wo solcher Stoff lagert, es deutlich zu sagen „Hier liegt Dynamit!“
Seien Sie mir also, verehrte Freundin, dafür hübsch dankbar, daß ich mich von Ihnen ein wenig ferne halte!... Und daß ich mich nicht darum bemühe, Sie auf meine Wege und „Auswege“ zu locken. Denn, um nochmals den „Bund“ zu citiren:
„Nietzsche ist der Erste, der einen neuen Ausweg weiß, aber einen so furchtbaren, daß man ordentlich erschrickt, wenn man ihn den einsamen, bisher unbetretenen Pfad wandeln sieht!“...
Kurz und gut, es grüßt Sie von Herzen
Der Einsiedler von Sils-Maria.
Adresse zunächst: Genova: ferma in posta.