1886, Briefe 655–784
724. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Dienstag 20. Juli 1886 Sils-Maria.
Lieber Freund,
es macht mir große Freude, daß Sie auch meinem neuesten Buche Geschmack abzugewinnen wissen: freilich werden Sie damit sehr vereinzelt bleiben — aber ich habe doch den Trost, gelegentlich einmal sagen zu können „wenn Ihr Anderen nichts an meinen Schriften habt, so liegt es wahrscheinlich daran, weil Ihr nicht genug für dieselben gethan habt!“ Was für Noth haben Sie dagegen schon durch mich gehabt, mein werther Verbesserer, Orthograph und Mitarbeiter! Es ist mehr als billig, daß Sie meine Dinge besser zugänglich finden als irgend jemand: dafür sind Sie ihnen auch mehr entgegengekommen als alle meine Herrn Freunde!
Die Schwierigkeit, die es dies Mal für mich hatte, zu reden (noch mehr: den Ort zu finden, von wo aus ich reden konnte), nämlich unmittelbar nach dem „Zarathustra“, werden Sie mir reichlich nachgefühlt haben: aber jetzt, wo das Buch ziemlich deutlich vor mir steht, scheint es mir, daß ich die Schwierigkeit ebenso schlau als tapfer überwunden habe. Um von einem „Ideal“ reden zu können, muß man eine Distanz und einen niedrigeren Ort schaffen: hier kam mir der früher vorbereitete Typus „freier Geist“ trefflich zu Hülfe. —
So viel von mir. Nun aber Ihre Andeutung in Betreff einer Zukunft „da unten“: nein, was mich dieser Gedanke froh macht! — und mindestens ebenso sehr per se als etwa per me (was Sie mir glauben müssen!). Mitte September gehe ich von hier aus nach Genua, um, zusammen mit dem braven und herzensguten, aber ein wenig melancholischen Lanzky, erst Rapallo und Santa Margherita, dann die Umgebung Genua’s, dann Alassio und andre kleine Riviera-Orte sorgfältig zu besichtigen und, je nach dem, an einem derselben hängen zu bleiben oder in Nizza zu landen. Für den Fall, daß Sie Ihrerseits den gleichen Gang machen, stehen wir natürlich zur Disposition; aber vorausgesetzt, daß Ihnen eine einsame Besichtigung der genannten Orte räthlicher scheint, würde ich mir erlauben, Ihnen ein Paar Adressen für billige Standquartiere zu senden. In Rapallo zb. (von wo aus Sie Santa Margherita und Portofino studiren können) das billige kleine Albergo della posta, ganz am Meere, in dem der erste Theil Zarathustra niedergeschrieben wurde. Ah, welche Freude wäre es für mich, den Cicerone dort und in Genua machen zu dürfen — und alle meine modesten Trattorien müßten Sie probiren! Und auf den düsteren Bastionen stiegen wir herum, und tränken, auf meinem Belvedere in Sampierdarena, ein Glas Monteferrato! Wirklich, ich weiß nichts, worauf ich mich so sehr freuen könnte. Es ist ein Stück meiner Vergangenheit, dies Genueser Stück, vor dem ich Respekt habe… es war furchtbar einsam und streng. —
Lanzky schreibt, am Schluß des letzten Briefs: „ach, was ich durstig bin nach Licht und Meer und tiefer Stille zu Zweien und kindlicher Freude am Einfachen!“ — ein sehr frommer Wunsch bei einem älteren Menschen. —
Hier, in Sils, bin ich noch nicht recht in Ordnung: die Gesundheit verträgt diese kolossalen Sprünge nicht. Auch occupirt der Druck des Buchs mich bis ins Lästige; eine wirkliche Freiheit (und die Erlaubniß, etwas Neues zu denken) giebt es erst mit dem ersten fertigen Exemplare. Also vielleicht in drei Wochen. Für die 4te Umschlag-Seite habe ich eine andre Disposition treffen müssen (— die Verständigung zwischen Schm<eitzner> und Fritzsch ist hoffentlich sehr bald erreicht: vorausgesetzt, daß Schm<eitzner> nichts davon erfährt, inwiefern ich bereits über Fritzschens Absichten unterrichtet bin).
— Komisch! Man hat gut sich wehren gegen Frauen-Emancipation: schon ist wieder ein Musterexemplar eines Litteratur-Weibchens bei mir angelangt, Miss Helen Zimmern (als welche die Engländer mit Schopenhauer bekannt gemacht hat), — ich glaube sogar, sie hat „Schopenhauer als Erzieher“ übersetzt. Natürlich Jüdin: — es ist toll, wie sehr diese Rasse jetzt die „Geistigkeit“ in Europa in den Händen hat (— sie hat mich heute des Längeren schon über ihre Rasse unterhalten). —
— Seien Sie nicht böse, aber Ihr herrliches Adagio hat sich bei mir inzwischen umgetauft: nicht mehr solenne, sondern adagio amoroso. Ich will schwören, daß dies Epitheton nicht nur ornans ist. —
— Die beiden Engländerinnen, die alte Mansouroff, und 2/3 der vorigen Sommer-Gesellschaft von Sils ist wieder da. Inzwischen habe ich aber Göschenen in’s Auge gefaßt, für andere Jahre. Sie werden daran vorbei müssen: Station des Gotthardtunnels. Vielleicht sehen Sie sich’s an? —
In herzlicher Gesinnung
Ihr Freund N.