1886, Briefe 655–784
664. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Nice (France) 24 Jan. 1886 rue St. François de Paule 16 II
Lieber Freund,
gleich nach dem Eintreffen Ihres herzlich bewillkommneten Briefes (der mich melancholisch machte trotz seiner guten Miene und geduldigen Heiterkeit) sind einige Zeilen an Herrn M<ottl> abgeschickt worden: nehmen wir an, mit etwas Optimismus, daß sie wenigstens „nichts geschadet“ haben. Ich fügte unter Kreuzband ein Programm (raisonné) bei, das des letzten klassischen Concerts in Monte-Carlo, in welchem Bizet’s Orchester-suite „Roma“ aufgeführt wurde (ein feines und raffinirtes Ding aus seiner Jugend, von ihm bei Lebzeiten nicht „gehört“ —), nämlich in Bezug auf ein Wort des Dankes, welches ich im Briefe seinen Bemühungen um Bizet gezollt hatte. Im übrigen habe ich auch einer Praeoccupation gegen Ihr libretto, so gut es angehn wollte, vorzubeugen gesucht. Am gleichen Tage schrieb ich an die treffliche Frau Röder in Carlsruhe. Ich gestehe, daß es jetzt für mich wenig so ersehnte Dinge giebt wie die Aufführung Ihrer Oper: — ich würde Alles thun, dabei zugegen zu sein. Man hat „seinen Geschmack“ und folglich auch seinen „Hunger“, unter Umständen seine Verhungerung.
Ihre aufklärenden Worte über Hrn. Widemann haben mich sehr erquickt. Trotzdem glaube ich, daß es ein richtiger Instinkt (theilweise ein wunderlich vervielfältigter Zufall) war, der im vorigen Herbste unser Zusammenkommen vereitelte. Ich hätte, unter uns gesagt, um Widemann’s Willen (bei einer persönlichen Begegnung mit ihm) dem Schmeitzner alle möglichen Zugeständnisse gemacht und wäre heute noch nicht am Ende mit ihm. —
Bin ich’s denn? — Was glauben Sie auf Grund Ihrer Gespräche mit Herrn Widemann über die projektirte zweite Auflage von „Menschliches, Allzumenschliches“? So lange das Buch in dem Antisemiten-Winkel steckt, wird kein Exemplar mehr verkauft: das weiß Schm<eitzner> selbst. Nun möchte ich ihm die noch vorhandenen Exemplare abkaufen, zur Vernichtung: er verlangt unverschämter Weise 2500 Mark, ich will 500 M. bieten (was für Schm<eitzner> jedenfalls noch besser als nichts ist — und für mich bereits unsinnig Viel!). — Haben Sie die Güte, werther Freund, diesen Fall und diese Frage Herrn Widemann gelegentlich vorzulegen. —
Es wäre mir sehr wichtig, die neue Ausgabe jetzt zu machen: unter uns gesagt, ich glaube, daß ich später nicht wieder darauf zurückkommen könnte. Aber der letzte Sommer und leider auch dieser Winter sind nun einmal von mir auf die Umarbeitung dieses einleitenden Buchs verschwendet worden: nun will ich’s von der Seele haben. Alp-druck! —
Denken Sie, daß mich Nizza dies Mal so entzückt, wie als ob ich es zum ersten Male sähe. Der Winter ist großartig klar, leuchtend und gleichmäßig. — Im Frühjahr gehe ich nach Venedig, wenn es nicht brüllende Löwen giebt, die mich nach Deutschland locken.
Bassano? Conegliano? Ach, Freund, wie schön, wenn wir dort herum uns wiedersehn könnten! Oder in Titian’s Geburtsort?
Ihren verehrten Eltern mich angelegentlich empfehlend und Ihnen selbst ein tapferes, reiches, siegreiches Jahr wünschend
treulich Ihr Nietzsche.