1886, Briefe 655–784
699. An Irene von Seydlitz in München
Venezia, San Canciano calle nuova 5256 7 Mai 1886.
Verehrte Freundin,
nichts konnte liebenswürdiger sein als die Intention Ihres Briefes an mich, — der mich aufforderte, an mich selbst zu denken. Aber gerade das geht, wie es scheint, über meine Kräfte, Dank einer lebenslänglichen Verwöhnung: es gab in diesem Winter so viel Anderes zu denken, es lag so viel Anderes und lauter so Schweres auf mir, daß ich nicht einmal Zeit hatte, an mich zu denken, wozu Ihre Zeilen in der That die freundschaftlichste Aufforderung enthielten. Nehmen Sie das alles wörtlich, so verrückt es auch klingen mag. Aber ein Mensch wie ich ist in sein Problem — in seine „Aufgabe“, sagt man wohl? — gespannt wie in ein schönes alterthümliches Folterwerkzeug: hat man’s wieder einmal „überstanden“, nun, so ist man doch für eine längere Zeit kaput. Zum Beispiel jetzt: ein Manuscript mit dem bösartigen Titel „Jenseits von Gut und Böse“ ist das eine Resultat des Winters; das andre — liegt hier in Venedig, ich selber, jenseits vielleicht von Gut und Böse, aber nicht von Ekel, Langeweile, malinchonia und Augenschmerzen. —
Diesen Winter sah ich öfter einmal den Namen meines Freundes Seydlitz in der Neuen freien Presse oder anderswo — sehr siegreich, wie mir schien? — Ich glaube von einem Auftrage für Bologna gelesen zu haben? Dies gab mir die Vorstellung, als ob Sie miteinander vielleicht südliche Pläne planten. Und darf ich wissen, wo Sie sich vor der großen Hitze verstecken wollen? — Zuletzt bitte ich, nicht erstaunt zu sein, mich plötzlich einmal in München auftauchen zu sehn. „Durchreisendamente“, um italiänisch zu sprechen. Dies Jahr muß ich meiner Mutter etwas zu Hülfe kommen, daß sie den Verlust ihres andren Kindes nicht gar zu schwer trägt. — Übrigens sind die Nachrichten gut, die Seefahrt war glänzend. —
Seien wir guter Dinge! (Erste Bedingung des ewig-Weiblichen nach meiner façon: lachen-können, im Kopfe lauter dummes Zeug.)
Dankbar und ergeben
Ihr
Fridericus Nux Crux
Lux Dux etc.