1886, Briefe 655–784
678. An Franz Overbeck in Basel
Nice (France) rue St. François de Paule 26 II étage, Donnerstag <25. März 1886>
Lieber Freund,
Daß ungefähr zu gleicher Zeit, wo Du an mich schriebst, meine Gedanken bei Dir in Basel waren, wird Dir ein vorgestern an Dich abgesandtes rothes Heft verrathen: — wie schön wäre es, über dergleichen curiosa hübsch miteinander, beieinander lachen (selbst sich ärgern) zu können! Ach, die dumme Gesundheit, die Einen von seinen Freunden fern hält! Die Nachrichten über Deine eigne Gesundheit (aus beiden letzten Briefen), auch über Deine Augen, lassen mich es bewundern, wie tapfer Du Dich eigentlich dort in Basel durchschlägst. Aber freilich, Du hast es, Dank Deiner Frau, eben hundert Male besser als ich: Ihr habt zusammen ein Nest — und ich habe höchstens eine Höhle, ich mag mich drehn und wenden wie ich will. Man sagt mir hier, daß ich den ganzen Winter, trotz vielfacher Beschwerniß, immer „bei glänzender Laune“ gewesen sei; ich selber sage mir, daß ich den ganzen Winter profondement triste, torturirt von meinen Problemen bei Tag und Nacht, eigentlich noch mehr höllenmäßig als höhlenmäßig gelebt habe — und daß ich den gelegentlichen Verkehr mit Menschen wie ein Fest, wie eine Erlösung von „mir“ fühle. Das große Mißverständnis der Heiterkeit! Die brave Malvida, die mit ihrer rosigen Oberflächlichkeit sich in einem schweren Leben immer „obenauf“ gehalten hat, schrieb mir einmal, zu meinem bittersten Vergnügen, daß sie, aus meinem Zarathustra heraus, schon den „heitren Tempel winken“ sehe, den ich auf diesem Fundamente aufbauen werde. Nun, es ist einfach zum Todt-lachen; und ich gebe mich nachgerade damit zufrieden, daß man mir nicht zusieht und ansieht, an was für einem „Tempel“ ich baue. —
Erholung, lieber alter Freund, nichts als Erholung habe ich auch jetzt wieder nöthig: aber sie ist immer schwerer zu schaffen. — Die erquickliche leichte Musik Köselitzens gehört dahin: was bin ich diesem Glücksfunde meines Lebens dankbar! (Aber warum hast Du mir nichts über den Brief K<öselitzen>’s gesagt, den ich dem letzten Briefe an Dich beigelegt hatte? Hoffentlich ist nichts verloren gegangen? Ich schrieb gleich nach dem Eintreffen des letzten Geldes; seitdem hörte ich nichts von Dir). Es ist dem Armen mit Wien wie mit Dresden mißrathen; er bat mich, etwas zu seinen Gunsten bei Mottl in Carlsruhe zu versuchen. Letzterer, obschon mir persönlich unbekannt, hat inzwischen sehr artig an mich geschrieben: er lege den größten Werth auf meine Empfehlung („die Empfehlung eines von mir enthusiastisch verehrten Mannes“) Hoffentlich bleibt es nicht bei Worten. — Was Du von Deinen litterarischen Absichten schreibst, macht mir rechte Freude. Ich lese Dich so gern, selbst noch abgesehn von dem, was man durch Dich lernt. Du verschlingst so artig Deine Gedanken, ich möchte fast sagen, listig, als ein Mensch der nuances, der Du bist. Der Himmel segne Dich dafür, in einem Zeitalter, das täglich plumper wird. —
Inzwischen hat man sich bemüht, mich zur Wiederaufnahme meiner akademischen Thätigkeit anzureizen. Ich soll durchaus culturgeschichtliche Collegien lesen. — Sonderbar! Rein als Frage der Erholung ist mir dieser Gedanke sogar recht geläufig. Aber es giebt eine Verrechnung dabei.
Bitte, sende mir, sobald Du kannst, das flügge werdende Geld hierher (zur Hälfte französisch, zur Hälfte italiänisch, wofern dies möglich ist und Dir keine Mühe macht). Ich bleibe hier bis zum 13. April. Meine Augen erlauben es nicht länger. Nachher wahrscheinlich Venedig, mit seinem Gäßchen-Dunkel; dann Engadin; im Herbst muß ich meiner alten armen Mutter etwas Trost zusprechen.
Herr Credner ist bereit, „einen zweiten Band der „Morgenröthe“ in Verlag zu nehmen,“ und hat mir brieflich angezeigt, daß er wünsche, „unter meine Verehrer gerechnet zu werden.“ Solchen Glauben in Israel habe ich noch nicht gefunden. Trotzdem — — —
Ach, wie Vieles gäbe es zu sagen und zu berathschlagen, lieber Freund! Empfiehl mich angelegentlich Deiner Frau und ihren Angehörigen. Dieses Jahr wird mich auch einmal nach München bringen. — Treulich Dein Freund Nietzsche.
(Sehr in Arbeit. Sei übrigens unbesorgt, es wird keinen zweiten Band „Morgenröthe“ geben. —)