1886, Briefe 655–784
680. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Nice (France) rue St. François de Paule 26 II étage <27. März 1886>
Lieber Freund,
es ist lange her, daß ich Ihnen nicht geschrieben habe: den Grund davon gab ich auf meiner letzten Karte an, — hoffentlich glauben Sie mir genug, um das zu glauben. Meine Augen sind überangestrengt, übermüdet und „über“ in jedem Betracht, — sie haben zuviel diesen Winter thun müssen, der ein trüber Winter war. Und es ist sonderbar, wie die Brauchbarkeit oder Unbrauchbarkeit meiner Augen mit dem Grade der Lichtfülle im Verhältniß steht! — Wie viel bin ich bei Ihnen gewesen, mit Sorgen, mit Hoffnungen, mit vielem herzlichen Nachdenken über etwas, das vielleicht meinerseits zu thun sei. Und wie erstaunt war ich zu hören, daß Sie Lust und Muth genug zurück erobert haben, um an das Dichten der „Marianna“ zu gehen! Das hat mir große Freude gemacht. Mir ist auf’s Gewissen gefallen, daß ich nach dieser korsischen Seite hin Ihr Interesse zu lenken gesucht habe, — und daß ich zuletzt ein Einsiedler bin, mit einem Einsiedler-Geschmack, der publice gar nicht in Betracht kommt. Im Zeitalter der „Operette“ und des choreographischen Poëms (heiße es nun Amore oder Parsifal) gehöre ich wahrscheinlich unter die „Unzeitgemäßen“. Offenbar will man heute im Theater etwas ganz Andres als im vorigen Jahrhundert, — und „die Oper“ scheint mir überlebt. —
Es fällt mir ein, daß die Wiener ein neues Operetten-Talent haben, Hrn. Kremser, dessen „Botschafter“ (es ist der junge Richelieu) c. 30 Mal mit ausverkauftem Hause vorgeführt wurde.
In Carlsruhe hat man Berlioz’ Benvenuto Cellini „gemacht“, — sehr respektabel für Herrn Mottl! Haben Sie von ihm inzwischen gehört? — Ich leider nicht.
Im „Klassischen Concert“ von Monte-Carlo (unter der Leitung eines Östreichers) habe ich alte Sachen von Rameau (von 1736) gehört, mit großer Neugierde; dann auch ganz neue Modernitäten von Massenet, scheußlich-bunt orchestrirt. Ich hatte keinen Begriff davon, daß man’s auch mit der Orchestration hurenhaft treiben könne.
Das letzte musikalische Ereigniß; hierselbst war der „russische Chor“, der sich durch ganz Europa bewegt hat und hier in Nizza, dem Wohnsitze vieler Russen, es zu einem großen Erfolge brachte. Nicht bei mir: obwohl die Kunststücke des Chorgesangs an sich, die pianissimi, die Verschnellerungen des tempo’s, und ein gewisser reiner mädchenhafter Stimmklang gewiß große Auszeichnung verdienen. Aber die Sachen selbst waren zum Theil nicht russisch genug (irgend wann einmal aus Deutschland oder Italien oder der Türkei hinübergerathen?), zum andern Theil russisch, aber nur im Sinne und Instinkte des gemeinen Mannes (mit einer Leibeigenschaft-Melancholie auch noch über den heitersten Liederchen); es fehlte ganz die männliche Note, der Ausdruck der herrschenden Stände und ihres Stolzes. Vier Concerte, die ersten mit großen Preisen (50, 20, 10 frcs. und nichts weiter).
Noch habe ich mich nicht für Ihren Brief bedankt, lieber Freund. Wenn ich Sie nur an der Spitze eines Orchesters wüßte! Wenigstens für einige Zeit: ein Musiker hält das Leben schlecht aus, wenn er lauter Zukunfts-Partituren schreibt. Ihre Erfahrungen mit Dresden haben etwas Groteskes, dem ich ein paar Erfahrungen mit demselben Dresden zur Seite stellen könnte — fast jede Woche bin ich auf diese curiose Stadt wieder aufmerksam gemacht worden. Da schreibt mir zum Beispiel gestern Jemand, der dort sich niedergelassen hat, ich möchte ihm eine Professur der Philosophie verschaffen, womöglich in Preußen: dieser Jemand war — was glauben Sie? — der verrückte E. von Hagen. Vorige Woche bot mir ein dortiger Dichter seine Freundschaft an: sein Herz sei, mir gegenüber, aufgegangen wie eine volle Rose. Wörtlich! Ich antworte nicht mehr auf solche curiosa.
Prof. Rohde hat eine Berufung nach Leipzig angenommen: und jetzt ist die halbe philosophische Fakultät mir dort „gut Freund“ (Zarncke, Heinze, Leskien, Windisch, Rohde usw.)
Diesen Winter habe ich benutzt, etwas zu schreiben, das Schwierigkeiten in Fülle hat, so daß mein Muth, es herauszugeben, hier und da wackelt und zittert. Es heißt:
Jenseits von Gut und Böse.
Vorspiel
einer Philosophie der Zukunft.
Grüßen Sie Ihren verehrlichen Vater von mir, mit dessen Befinden es hoffentlich besser geht? Es hat mich sehr lachen machen, Sie mir als seinen Vicar zu denken. Sie passen nicht schlecht dazu? hein!
Votre ami
N.
Von hier geht’s am 13. April nach Venedig. Es sticht mich in’s Herz, zu denken, daß ich Sie dort nicht finde. — Und wo werde ich wohnen!