1886, Briefe 655–784
662. An Felix Mottl in Karlsruhe (Entwurf)
<Nizza, um den 10. Januar 1886>
Hoff<entlich> ist mein Name Ihnen nicht ganz unbekannt?
Man hat mir die angenehme Mittheilung gemacht, daß Hr P<eter> G<ast> das Schicksal s<eines> L<öwen> v<on> V<enedig> Ihren Händen und Ihrem Geschmacke anvertraut hat: darf ich gestehn, daß ich an Ihrer Entscheidung kaum weniger Antheil nehme als der Componist jener Oper selber. Ich liebe das Werk außerordentlich: vergeben Sie es dieser Liebe wenn sie den Versuch macht auch Sie, hochgeehrter Herr, zu einer besonderen Begünstigung dieser Oper überreden zu können.
Der Text, im vorigen Jh. von der guten Gesellschaft vorgezogen und geliebt, mehrfach componirt, noch von Stendhal ausdrücklich gelobt, erfordert freies Spiel: die „alte gute Zeit“ vor der franz. Revol., die Zeit der allerbesten und sehr männlichen Manieren, des Puders und der Brokat-Kleider kann vielleicht sogar absichtlich mit etwas Ironie vorgeführt und gleichsam unterstrichen werden: — der Reiz dieser Sitten ist gerade heute nicht gering. Die Oper darf sich als Rokoko-Oper geben (ich habe bemerkt, <daß> gerade heute unter den Künstlern eine Vorliebe für Rokoko herrscht)
Eine Rokoko-Oper: es muß Alles auch von Seiten der Dekoration gethan werden, um das Venedig von 1770, die heiterste verliebteste und geliebteste Stadt des vorigen Jhd.’s zum Ausdruck zu bringen.
Man darf dabei auf den auch heute noch wirksamen Zauber Venedigs rechnen, der einzigen Stadt, „von der man träumen kann, ohne sie gesehen zu haben“ Die Musik Peter Gast’s hat jene morbidezza und Zartheit, jenes Glückliche, Müssiggängerische, halb-Orientalische und Alles, was nur Nordische M<enschen> nach dieser geheimnißvoll heiteren und zärtlichen Stadt ohne Lärm und Staub immer wieder hinzieht. In der Musik hatte dieser eigentliche Zauber Venedigs bisher noch keinen Ausdruck bekommen. Wenn der Löwe von V<enedig> erst einmal auf allen Bühnen Eur<opa>’s „gebrüllt“ haben wird (denn ich prophezeie dieser Oper einen Erfolg wie ihn Carmen gehabt hat) wird man fühlen, wie diese Musik nur dort entstehen konnte — und inwiefern die Seele V<enedigs> hier zum Tönen gebracht ist
Es ist mir vom vorigen Winter her in Erinnerung, mit welcher Dankbarkeit gegen Sie ich in franz<ösischen> Zeitungen die Berichte über Ihre Aufführung von Bizet<s> posthumer Oper las: gönnen Sie, was Sie einem von mir verehrten Todten erwiesen haben, nunmehr einem Lebendigen, einem sehr Lebendigen sogar — denn dieser P<eter> G<ast> — — —