1886, Briefe 655–784
661. An Franz Overbeck in Basel
Nice, rue St. François de Paule 26 II. (am 9 Jan. 1886.
Lieber Freund,
es gäbe Vielerlei zu erzählen, wäre ich nur „bei besseren Augen“. — Ich danke bestens für Deine guten Freundes-Wünsche zum neuen Jahre; insgleichen waren mir die fünf Hundert-Scheine sehr willkommen (— sie ersparten mir den „Gang zum Banquier“, den ich hasse und der mich immer krank macht). Es giebt viel in diesem Jahre zu überwinden, zunächst die kommenden Monate, welche für meine Angehörigen nicht minder hart als für mich sind. Meine Mutter ist fast in Verzweiflung. — Gestern meldete sie mir das Definitivum in Betreff der Rohdeschen Angelegenheit: sie knüpft Hoffnungen daran; in der That ist mir Leipzig, das ja beinahe meine Heimat ist, nunmehr, als ein Rendez-vous aller meiner guten Bekannten und Kameraden von Ehedem, doppelt werth geworden. Sie hatte die Nachricht von Heinze’s, welche sich in diesem Herbste äußerst herzlich gegen mich benommen haben: auch wollen sie für die Osterferien mir hier in Nizza ihren Besuch machen. Dasselbe hat Herr Lanzky in Vallombrosa versprochen (ich habe alle Gründe dankbar zu sein, daß ein Mensch wie L<anzky>, ein merkwürdig edler und feiner Charakter, wenn auch leider kein „Geist“ — mir begegnet ist: auf die Dauer wird er wahrscheinlich so etwas wie meine „praktische Vernunft“, als Ökonom, Gesundheitsrath und dergleichen) Aus dem beiliegenden Briefe Köselitzens, den ich Dir mittheile, weil er seine Situation ganz klar macht — wirst Du ersehen, daß auch noch andre Besuche in Nizza in Aussicht stehen. Herr Widemann hat meiner Mutter den Wunsch ausgedrückt, ein paar Jahre in meiner Nähe leben zu können; ich gestehe, daß ich meine Bedenken hatte — Du wirst aber dem Briefe K<öselitz>s entnehmen, daß es vielleicht Gründe giebt, guten Muths hierin zu sein. Daß K<öselitz> seine korsische Oper (zu der ich ihm im letzten Sommer den Entwurf geschickt habe — er war entzückt davon) hier in Angriff nimmt, ist mein Wunsch; ich thue unter der Hand dies und jenes, um es zu ermöglichen. Schließlich halte ich die Hoffnung fest, daß meine drei Damen, die mir rührend zugethan sind, mesdames Fynn et Manshouroff ebenfalls hierher kommen. Man hat gar nicht so die Wahl, sich zu verlassen, wenn man sich erst gefunden hat: man trifft sie gar zu selten, diese vornehmen und zarten Seelen, mit denen man umgehn kann, ohne, wie gewöhnlich, sich Zwang anthun zu müssen. Jetzt sind sie in England. — Ich schrieb von meinem „Experimentiren“: nun, dem Himmel sei Dank, daß ich’s wagte und mich nicht wieder in die Marter des letzten Winters einspannte, an deren Nachwirkung ich noch ein halbes Jahr beinahe krank war. Alles, was hier von Basel ist, kommt mir dabei zu Hülfe, ebenso herzlich als respektvoll, wie es zur Basler Art gehört. Das Wetter ist unbeschreiblich schön, Woche für Woche; der Himmel leuchtend rein von früh bis Abend.
Erzähle Deiner lieben Frau, daß ich ein Jugendwerk Bizet’s gehört habe, die Orchestersuite Roma (der arme B<izet> selber hat sie nicht zu hören bekommen!) Anziehend-naiv und raffinirt zugleich, wie Alles von diesem letzten Meister der französischen Musik. — Von Herzen Dein Freund
N.
Ich habe, als erste Verwendung der Schmeitznerschen Gelder, das Grab meines Vaters mit einer großen Marmorplatte bedecken lassen. (Es wird nach dem Wunsche meiner Mutter, einstmals auch ihr Grab sein.)