1886, Briefe 655–784
752. An Paul Deussen in Berlin
<Sils-Maria, um den 20. September 1886>
Lieber alter Freund,
es giebt, wie man mir mittheilt, den schönsten Anlaß, Dir Glück zu wünschen — oder vielmehr nicht einmal erst zu wünschen. Halte fest, was Du jetzt hast, mein alter Freund und Kamerad, sonderlich wenn das „Glück“, wie in Deinem Falle, ein gutes Weib ist; denn das Glück läuft gar zu gerne von Unsereinem davon (nämlich von uns Philosophen und Unthieren der Erkenntniß…)
Zum Zeichen, wie gern ich einmal mich wieder in Deiner Nähe wissen würde, habe ich mir erlaubt, Dir mein jüngstes und bösartigstes Kind zuzusenden: hoffentlich lernt es in Deiner Nähe etwas „Moralität“ und Vedanteske Würde, da es an Beidem von seinem Vater her Mangel leidet. „Jenseits von Gut und Böse“ heißt es; eben las ich bereits einen furchtbar ernsten Aufsatz darüber unter dem Titel „Nietzsches gefährliches Buch“ — es wird das Thema durchfigurirt „das ist Dynamit“…
Was liegt darin! War jemals ein Mensch verwegener zu den Dingen gestellt, als ich? Man muß es aushalten können: das ist die Probe; was man dazu „sagt“, davon „denkt“, ist mir gleichgültig. Schließlich — ich will nicht für heute und morgen, sondern für Jahrtausende Recht behalten.
Diesen Sommer sprach ich öfter über Dich mit Leskien (Sils Maria ist nämlich in der zweiten Hälfte des Sommers ein wahres Professoren-Rendezvous: so daß der alte „Einsiedler von Sils-Maria auf dem Laufenden erhalten wird — — ja, ja, auf dem Laufenden, aber zum Davonlaufen, was die heutigen deutschen Universitäts-Bildungs-Zustände anbetrifft). Leskien erzählte von der außerordentlichen Schätzung, welche Böthlingk für Dein Werk habe; er meinte, es würde leichter sein, Dir eine Sanskrit-Professur als einen Lehrstuhl (Lehnstuhl) für Philosophie zu schaffen. Im Grunde hättest Du Dich mit Deiner Doppel-Begabung zwischen zwei Stühle gesetzt: — man läßt ja nach alter Gelehrten-Gewöhnung nur die „Spezialität“ gelten, man darf nicht zweien Herrn dienen, zumal wenn es zwei Weiber sind, wie Philologie und Philosophie…
Mir selbst hat Dein Buch immer von Neuem wieder tiefes Interesse und Belehrung gegeben: ich wünschte, es gäbe etwas ähnlich Klares, Dialektisch-Durchgearbeitetes auch für die Sankhya-Philosophie. —
Behalte in gutem Gedächtnisse Deinen
Freund Friedrich Nietzsche.