1886, Briefe 655–784
671. An Emily Fynn in Genf
Nice/France. rue St. François de Paule 26 II <Mitte Februar 1886>
Hochverehrte Frau!
endlich kommt ein Brief von mir — soll ich erklären, wie es kommt, daß er erst „endlich“ kommt? Aber es wäre unnütz: Sie selber haben, mit Ihrer großen und nothwendigen Gütigkeit schon genug zu meinen Gunsten und zu meiner Entschuldigung (falls es sich um eine Schuld handelt) geltend gemacht, daß ich gar nichts Besseres thun kann als mich darauf zu berufen. Ich bin so dankbar für alle Feinheit der Interpretation in Bezug auf das, was ich thue oder lasse —
Es scheint, wir haben beide Noth, über schmerzhafte Erlebnisse hinweg zu kommen, hinweg zu leben. Auch ich verlor eine Schwester, nicht zwar durch einen wirklichen Todesfall, aber durch eine jener großen Trennungen, die etwas ebenso Unwiderrufliches haben. Sie ist mit ihrem Gatten nach Südamerika unterwegs, zum Zweck einer Colonisation daselbst: es sind genug Aussichten vorhanden, daß die Sache gelingt, aber je mehr sie gelingt, um so fester sind sie an diese ferne Welt geknüpft. Zuletzt ist es nicht einmal Paraguay, was mir am meisten das Gefühl giebt, meine Schwester verloren zu haben. Mir sind die Gesinnungen meines Schwagers für die er lebt und stirbt, fremder als Paraguay.
In München, das ich auf der Herreise streifte hatte ich, bei meinen Freunden daselbst, den Eindruck wie wohl und heimisch sich in diesem Maler- und Malerinnen-Quartier Ihre Fräulein Tochter fühlen müßte; mehr noch, ich rechnete im Geiste aus, ob sich irgend ein Zusammenhang zwischen ihrer ausgezeichneten und originellen Art, Blumen aufzufassen und dem Japonisme meines Freundes Seydlitz ausfindig machen ließe. Gesetzt, daß Sie zusammen einmal wieder Deutschland berühren, bitte, risquiren Sie einen kleinen Versuch mit München: Mein Freund und seine Frau werden sich eine große Ehre daraus machen, Ihnen zu Diensten zu sein.
An Portofino wo ich die Grüße Ihrer verehrungswürdigen Freundin treulich abgegeben habe, wäre ich beinahe hängen geblieben. Es gab in Genua unter den dortigen Bekannten den allerbesten Willen mich für den Winter in der Villa eines Englischen Dentisten einzuquartieren. Climatische Bedenken — welche inzwischen bei der allgemeinen Härte dieses Winters sich doppelt gerechtfertigt haben — ließen mich weiter reisen, hierher in mein altes Nizza. Die Luft ist hier reiner und glänzender als irgendwo in Europa; man sagt mir, daß ich jeden Winter „besser und jünger“ aussehe — ich meine, darauf hin muß man einem Orte treu bleiben. Einem Orte der Einem Jugend verspricht — —
Was mir in Nizza fehlt, sind Menschen, die ich liebe und denen man nicht erst alles „sagen muß“.
Ich bin drei viertel des Tages ziemlich düster und arbeitsam den Rest lustig oder „profondément triste“, wie es einem einsamen Bär und Philosophen zukommt.
Welche Freude hat mir Ihr Bild gemacht! Und das was am meisten daran anziehend und festhaltend ist, ist glücklicherweise keinem Lebensalter zu eigen: es gehört zu jenem ewigen „jünger und besser“ welches man sich leider durch kein Nizza verschaffen kann. — Zeugniß: meine eigene Photographie. —
Es ist mir oftmals die Sorge gekommen als ob jene ganz merkwürdige Rückkehr Ihrer Gesundheit vielleicht nicht Stand gehalten hätte. Und ob Genf, gerade Genf Ihnen just gut thut? Es sind so viele hier, die vor dem Genfer Winter geflohen sind.
Von den Augen ist nichts Gutes zu melden. Trotzdem: es stand im Engadin schlechter um sie. Das Romershausen’sche Wasser hat mich viele Male erquickt, und niemals, ohne mich mit herzlichstem Dank an seine Geberin denken zu lassen. Behalten Sie mich wenn ich bitten darf auch fürderhin in gutem Angedenken, zu Dreien und nicht bloß zu Dreien. Sie wissen, hochverehrte Frau, daß meine beständigen Wünsche Sie begleiten, und daß es mir eine große Freude sein wird, wenn etwas von diesen Wünschen sich erfüllt.
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Friedrich Nietzsche
Einsiedler von Sils-Maria.