1886, Briefe 655–784
676. An Elisabeth Förster auf der Reise nach Paraguay
12. März 1886 Nizza, rue St. Francois de Paule 26 II Et.
Mein liebes Lama,
unbändige Freude über Deinen Brief aus dem Weltmeere! Er befreite mich von einem fast unerträglichen Drucke, der so weit gieng, mich nicht einmal an Dich schreiben zu lassen, ob ich es gleich täglich wollte: — ich hatte mich ja für das prächtige und ganz überraschende „Vergiß mein nicht“ zu bedanken! Wir haben nämlich in Europa einen zweiten Aufguß von Winter, der nicht weniger stark ausgefallen ist als der erste: unerhörte Schneemassen von England bis Italien; selbst hier erniedrigen wir uns die Nacht wenigstens bis zu 3 Grad unter Null — kurz, die Zeitungen strotzten von schlechten Wetter-Nachrichten, Stürmen, wie sie die „ältesten Seeleute“ nicht erlebt hätten und dergleichen. Und nun sah ich immer das arme Lama schaukeln, schaukeln — — Ich gratuliere sehr dazu, wie Dir bisher die Reise bekommen ist; ich hatte Dir, als Mittel gegen die Seekrankheit, Chloral noch empfehlen wollen und mich geärgert, es vergessen zu haben, aber siehe da! das Lama hat ein noch besseres Gegenmittel, nämlich ihre Gesundheit. Auf diese hin darfst Du wirklich stolz sein: Dein Bruder ist ein wahres Krüppelthier gegen Dich. Da fällt mir ein, daß besagte Krüppelei eben ein wunderliches Projekt hervorgebracht hat: nämlich mich in die Kur des Prof. Schwenninger zu begeben, der nun einmal den Glauben haben soll, mir helfen zu können (er hat, ich weiß nicht wie, eine Anhänglichkeit an mich; thatsächlich haben wir eine Zeitlang im „Kopf“ zusammen zu Mittag gegessen) Dieser Schwenninger richtet sich jetzt in Heidelberg oben auf dem Schloß das große Hôtel zum Sanatorium her; schon für diesen Sommer werden Gäste erwartet (darunter Lord Rosebery, der englische Minister des Auswärtigen); schließlich giebt es diesen Sommer ein ungeheures Universitäts-Jubiläum, und das Heidelberger Faß soll zum ersten Male gefüllt und ausgetrunken werden. Soviel über meine „Gesundheit“.
Köchlins hier, mir sehr zugethan, haben mir gestern mitgetheilt, daß ihr jüngster Sohn sich mit der Tochter jener uns bekannten Basler Familie Hofmann-Merians verlobt habe. Daß Thurneysen-Merian diesen Winter gestorben ist, wirst Du wissen; ebenfalls Wackernagel, der Redakteur der Basler Nachrichten. Die gute Irene v. Seydlitz hat mir einen komischen Brief geschrieben, aus dem sich irgendwelche Hamburger Inspirationen errathen lassen; ich will zusehn, dieses Jahr auch einmal nach München zu kommen, doch aus andern Gründen: ich brauche etwas Verkehr mit Künstlern. Geizer in Jena hat einen Ruf nach Basel gehabt, an Jacob Burckhardts Stelle — und abgelehnt (er rechnet auf Berlin) Ich glaube nicht daran, mein liebes Lama, daß ich mich für die Universität wieder einfangen lasse: es ist mir klimatisch nicht möglich, so lange man mir nicht hier in Nizza eine Zuhörerschaft zurecht macht. Ich kann es nicht beschreiben, wie ich wieder vorigen Herbst mich in Naumburg und Leipzig gefühlt habe: eine beständige betrübte Pelzigkeit. Hier habe ich jeden Winter einen tüchtigen Schritt vorwärts gemacht: zum Mindesten muß ich nichts zu früh risquiren, um nicht Alles wieder zu verlieren. — Verzeihung! Aber Du hast diesen Dingen so viel Nachdenken geschenkt, trotz allen eignen Sorgen, daß ich Dir davon erzählen muß. Der Fall mit der Schwester Deussens hat mich äußerst erbaut — Euretwegen! Ich glaube mich zu erinnern, daß sie als vierzehn- oder fünfzehnjähriges Mädchen ein großes Hauswesen (zu Hause) fest in den Händen hatte und wacker durchführte.
Sage Deinem Bernhard, daß ich den ganzen Winter meine Mahlzeit mit seinem Messer gemacht habe, ebenfalls, daß ich die wollenen Hemden sehr zu schätzen weiß (allerdings als Unterzieh-Hemden); denn ich habe diesen harten Winter, Dank dieser Bekleidung, niemals eingeheizt und in summa doch weniger gefroren als in irgend einem Winter. —
Entdeckung: fetter weißer Käse ist sehr viel leichter verdaulich als magerer. Mein Mittag besteht aus Milch, Grahambrod, Käse und Nüssen — ich glaube, man heißt dies, mit einiger Freiheit des Ausdrucks, Vegetarianismus.
Mein altes liebes Lama, verzeih die Dummheiten dieses Briefs, hoffentlich werde ich wieder vernünftiger — und heute ist es etwas zu Neues und Kurioses für mich, daß das Lama in der Nähe der Cap-Verdeschen Inseln schaukelt! Nein, welche Wohlthat, daß man kein Eckensteher ist! Es lebe das Lama und ihr Bernhard und Euer Paraguay und Eure ganze gute Gesellschaft und Menschheit, die Ihr um Euch habt!
In Liebe und Dankbarkeit
Dein Fritz.
Den 13. April will ich nach Venedig, Briefe poste restante. den 13. Juli ungefähr nach Sils. Im Herbst zur guten Mämms.