1886, Briefe 655–784
688. An Carl Fuchs in Danzig
Nizza (France) rue St. François de Paule 26 II <vermutlich Mitte April 1886>
Werther und lieber Herr Doktor,
glauben Sie daran, auch ohne daß ich es schriftlich bezeuge (was mir meine Augen von Jahr zu Jahr weniger erlauben —), daß nicht leicht Jemand Ihren Untersuchungen und Feinheiten mit mehr Theilnahme folgen kann, als ich. Wenn nur „Theilnahme“ ausreichte! Aber es fehlt mir an Wissen und Können nach allen den Seiten hin, wo Ihre merkwürdig vielfältige Begabung liegt. Vor allem: es vergehen Jahre, in denen mir Niemand Musik macht, ich selbst eingerechnet. Das Letzte, was ich mir gründlich angeeignet habe, ist Bizet’s Carmen, — und nicht ohne viele, zum Theil ganz unerlaubte Hintergedanken über alle deutsche Musik (über welche ich beinahe so urtheile wie über alle deutsche Philosophie); außerdem die Musik eines unentdeckten Genies, welches den Süden liebt wie ich ihn liebe und zur Naivetät des Südens das Bedürfniß und die Gabe der Melodie hat. Der Verfall des melodischen Sinns, den ich bei jeder Berührung mit deutschen Musikern zu riechen glaube, die immer größere Aufmerksamkeit auf die einzelne Gebärde des Affekts (ich glaube, Sie heißen das „Phrase“, mein lieber Herr Doktor?), ebenfalls die immer größere Fertigkeit im Vortrage des Einzelnen, in den rhetorischen Kunstmitteln der Musik, in der Schauspieler-Kunst, den Moment so überzeugend wie möglich zu gestalten: das, scheint mir, verträgt sich nicht nur mit einander, es bedingt sich beinahe gegenseitig. Schlimm genug! man muß eben alles Gute in dieser Welt etwas zu theuer kaufen! Das Wagnerische Wort „unendliche Melodie“ drückt die Gefahr, den Verderb des Instinkts und den guten Glauben, das gute Gewissen dabei allerliebst aus. Die rhythmische Zweideutigkeit, so daß man nicht mehr weiß und wissen soll, ob etwas Schwanz oder Kopf ist, ist ohne allen Zweifel ein Kunstmittel, mit dem wunderbare Wirkungen erreicht werden können: der „Tristan“ ist reich daran —, als Symptom einer ganzen Kunst ist und bleibt sie trotzdem das Zeichen der Auflösung. Der Theil wird Herr über das Ganze, die Phrase über die Melodie, der Augenblick über die Zeit (auch das tempo), das Pathos über das Ethos (Charakter, Stil, oder wie es heißen soll —), schließlich auch der esprit über den „Sinn“. Verzeihung! was ich wahrzunehmen glaube, ist eine Veränderung der Perspektive: man sieht das Einzelne viel zu scharf, man sieht das Ganze viel zu stumpf, — und man hat den Willen zu dieser Optik in der Musik, vor Allem man hat das Talent dazu! Das aber ist décadence, ein Wort, das, wie sich unter uns von selbst versteht, nicht verwerfen, sondern nur bezeichnen soll. Ihr Riemann ist mir ein Zeichen davon, eben so wie Ihr Hanns von Bülow, ebenso wie Sie selbst, Sie als der feinsinnigste Interpret von Bedürfnissen und Veränderungen der anima musica, welche, Alles in Allem, zuletzt doch der beste Theil von dem sein mag, was die âme moderne ist. Ich drücke mich verdammt schlecht aus, zum Unterschiede von Ihnen; ich meine, es giebt auch an der décadence eine Unsumme des Anziehendsten, Werthvollsten, Neuesten, Verehrungswürdigsten, — unsre moderne Musik zum Beispiel, und wer nur nach der Art der drei eben Genannten ihr treuer und tapferer Apostel ist. Verzeihung, wenn ich noch hinzufüge: wovon ein Decadenz-Geschmack am entferntesten ist, das ist der große Stil: zu dem zum Beispiel der Palazzo Pitti gehört, aber nicht die neunte Symphonie. Der große Stil als die höchste Steigerung der Kunst der Melodie. —
Endlich ein Wort über eine ganz große theoretische Differenz zwischen uns, nämlich in Anbetracht der antiken Metrik. Freilich: ich darf heute kaum mehr über diese Dinge mitreden, — aber 1871 hätte ich’s gedurft, welches Jahr ich in der erschrecklichen Lektüre der griechischen und lateinischen Metriker verbracht habe, mit einem sehr wunderlichen Resultate. Damals fühlte ich mich als den abseits gestelltesten Metriker unter allen Philologen: denn ich demonstrirte meinen Schülern die ganze Entwicklung der Metrik von Bentley bis Westphal als Geschichte eines Grundirrthums. Damals wehrte ich mich mit Händen und Füßen dagegen, daß z. B. ein deutscher Hexameter irgend etwas Verwandtes mit einem griechischen sei. Was ich behauptete war, um bei diesem Beispiele zu bleiben, daß ein Grieche beim Vortrage eines homerischen Verses gar keine andern Accente als die Wortaccente angewendet habe, — daß der rhythmische Reiz exakt in den Zeitquantitäten und deren Verhältnissen gelegen habe, und nicht, wie beim deutschen Hexameter, im Hopsasa des Ictus: noch abgesehn davon, daß der deutsche Daktylus auch in der Zeitquantität grundverschieden vom griechischen und lateinischen ist. Denn wir sprechen „Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen, es grünten und blühten“ mit dem Gefühle von
, vielleicht sogar als Triolen, gewiß aber nicht zweitheilig-feierlich mit einer langen Silbe, welche die Dauer von zwei kurzen hat. Das Strengernehmen der Dauer einer Silbe war es eben, was in der antiken Welt den Vers von der Alltagsrede abhob: was bei uns Nordländern ganz und gar nicht der Fall ist. Es ist uns kaum möglich, eine rein quantitirende Rhythmik nachzufühlen, so sehr sind wir an die Affekt-Rhythmik des Stark und Schwach, des crescendo und diminuendo, gewöhnt. Von Bentley aber (der ist der große Neuerer, G. Hermann ist erst der Zweite), ebenso von den deutschen Dichtern, welche antike Metra nachzubilden glaubten, ist ganz unschuldig unsre Art rhythmischer Sinn als einzige und „ewige“ Art, als Rhythmik an sich, angesetzt worden: ungefähr wie wir allesammt geneigt sind, unsrer Humanitäts- und Mitgefühls-Moral als die Moral zu verstehen und sie in ältere, grundverschiedene Moralen hineinzu-interpretiren. Es ist ja kein Zweifel, daß unsre deutschen Dichter „in antiken Metren“ damit vielerlei rhythmische Reize in die Poesie gebracht haben, deren sie ermangelte (das Tiktak unsrer Reim-Poeten ist auf die Dauer fürchterlich): aber ein Alter hätte nichts von diesen Zaubern gehört, noch weniger aber geglaubt, dabei seine Metra zu hören. — Unter Franzosen versteht man die Möglichkeit einer allein zeit-quantitirenden Metrik schon leichter: sie fühlen die Zahl der Silben als Zeit. — Ecco, der längste Brief, den ich seit Jahren geschrieben: nehmen Sie ihn als solchen und auch in jedem andern Verstande als ein Zeichen dafür, daß auch ich „die Dankbarkeit“ nicht vergesse, mein werther Herr Doctor, der Sie mich nun schon zwei Mal mit ganz ausgesuchten Gerichten bewirthet haben. — Wo um alles in der Welt haben Sie Ihr Talent zum causer en litterature her? ist etwas französisches Blut in Ihren Adern? —
Schließlich ein Wort des Zorns gegen Ihren Verleger und Drucker. Wie! „Hefte“? Hefte, die nicht haften, die nicht geheftet sind! lucus a non lucendo! Halten Sie diesen Scherz einem alten Philologen zu Gute und bleiben Sie trotzdem wohlgesinnt
Ihrem ergebensten
Dr. Friedrich Nietzsche,
weiland Prof. der klassischen
Sprachen, insgleichen der Metrik.
Lesen Sie, ich bitte, ein Buch, das Wenige kennen, Augustinus de musica, um zu sehen, wie man damals Horazische Metren verstand und genoß, wie man dabei „taktirte“, welche Pausen man einschob u. s. w. (Arsis und Thesis sind bloße Taktirzeichen).
Meine Adresse ist, ein für alle Mal: Naumburg an der Saale. Von da aus wird mir Alles nachgeschickt. Ich selbst bin „unstät und flüchtig“ auf Erden — —