1886, Briefe 655–784
684. An Franz Overbeck in Basel
Sonnabend <Nizza, 10. April 1886>
Lieber Freund,
nur wenige Worte. Die Augen verlangen es. Besten Dank für Brief, Geld und die zwei Bücher. Nächsten Dienstag Abreise nach Venedig, Adresse einfach poste restante. Es ist möglich, daß ich im Köselitz’schen Neste sitzen werde. Heinze’s sind hier, zu meiner Erholung, deren ich sehr bedarf. Winter-Pensum exakt fertig, Abschrift selbsthändig besorgt, Fädchen drum gebunden, ad acta gelegt. Dergleichen druckt mir Niemand, am wenigsten Credner; und der Luxus vom vorigen Jahre darf nicht wiederholt werden (ich meine das Drucken auf eigne Kosten.) Zuletzt: es hat Alles keine Eile. — Mottl hat Nein gesagt, sehr motivirt, Principien-Kampf zu Gunsten Wagners etc. — K<öselitz> selbst sandte Proben seines Operntextes „Marianna“ (das ist das korsische Thema.) Rohde hat geschrieben, schwer bewegt. — Das Schönste war ein Brief aus offenem Meere, aus der Nähe der Cap Verdeschen Inseln, seitens meiner Schwester: glückliche Fahrt, gar keine Seekrankheit, und prächtige Menschen. Eine Schwester Deussens gehört auch zum Projekt. Eine hiesige Fabrik hat meine Empfehlung nachgesucht, um ihre Sachen in Paraguay einzuführen: spaaßhaft. In der französischen Litteratur ist le grand succès dieses Jahres un crime d’amour von Paul Bourget: erstes Zusammentreffen der beiden geistigsten Strömungen des Pessimismus, des Schopenhauerischen (mit der „Religion des Mitleidens“) und des Stendhal’schen (mit messerscharfer und grausamer Psychologie.) Man hält Vorträge über diesen Roman: der endlich einmal wieder „Kammermusik-Litteratur“ ist und nichts für die Menge. Deutscherseits sagt man von ihm, wie ich höre, ein „Fäulnißprodukt,“ —
Mich Dir und Deiner Frau angelegentlich empfehlend Dein Freund
N.
N. B. Heinze erzählte mir vom großen Eindrucke, den Harnacks Dogmengeschichte gemacht habe. — Gestatte mir ein Buch gerade Dir zu empfehlen, von dem man in Deutschland nichts wissen will, aber das viel von meiner Art, über Religion zu denken, und eine Menge suggestive Fakta enthält: Julius Lippert, Christenthum, Volksglaube, Volksbrauch (Hofmann in Berlin, 1882.)