1872, Briefe 183–286
282. An Malwida von Meysenbug in Florenz
Basel 20 Dec. 72.
Verehrtestes Fräulein,
Sie haben mir eine große Freude gemacht, für die ich Ihnen auf der Stelle gedankt hätte, wenn es nicht nöthig gewesen wäre, eine Photographie von mir beizulegen. Nun gab es aber keine — und wie Sie sehen — giebt es jetzt zwar welche, doch wieder vom alten Seeräuberstil, so daß ich zu der metaphysischen Annahme gedrängt werde, es möge das, was die Photographen so und immer wieder so darstellen, mein „intellegibler“ Charakter sein; denn mein intellektueller ist es so wenig daß ich Bedenken trug, Ihnen dies Conterfei meiner schlechteren Hälfte anzubieten. Kurz, ich wollte sagen, es gab erst einen Zeitverlust, weil ich keine Photographie, und dann wieder einen, weil ich eine hatte — aber eben eine solche! Ich erkläre dies ausdrücklich, weil ich Ihre Photographie für unbegreiflich gut halte: wie sich auch meine Schwester über das Bild von Fräulein Olga eben so dankbar als erfreut zu äußern allen Grund hat. Ich reise jetzt für zwei Wochen nach Naumburg um dort Weihnachten zu feiern: während dieser Zeit will ich meine Schwester dazu bringen, sich photographisch hinrichten zu lassen: wenigstens bezeichnet dieser Ausdruck meine Empfindung, wenn der einäugige Cyklop als deus ex machina vor mir steht. Während ich mich dann bemühe, dem Verderben Trotz zu bieten, geschieht bereits das Unvermeidliche — und ich bin von Neuem als Seeräuber oder erster Tenor oder Bojar et hoc genus omne aeternisirt.
Nun werden Sie die Vorträge gelesen haben und erschreckt worden sein, wie die Geschichte plötzlich abbricht, nachdem so lange präludirt war und in lauter negativis und manchen Weitschweifigkeiten der Durst nach den wirklichen neuen Gedanken und Vorschlägen immer stärker sich eingestellt hatte. Man bekommt einen trocknen Hals bei dieser Lektüre und zuletzt nichts zu trinken! Genau genommen paßte das, was ich mir für den letzten Vortrag erdacht hatte — eine sehr tolle und bunte Nachtbeleuchtungsscene — nicht vor mein Baseler Publikum, und es war gewiß ganz gut, daß mir das Wort im Munde stecken blieb. Im Übrigen werde ich recht um die Fortsetzung gequält: da ich aber das Nachdenken über das ganze Gebiet etwas vertagt habe, etwa auf ein Triennium — was mir, bei meinem Alter, leicht wird — so wird der letzte Vortrag gewiß nie ausgearbeitet werden. — Die ganze Rheinscenerie, so wie alles Biographisch-Scheinende ist erschrecklich erlogen. Ich werde mich hüten die Baseler mit den Wahrheiten meines Lebens zu unterhalten oder nicht zu unterhalten: aber selbst die Umgebung von Rolandseck ist mir in bedenklicher Weise undeutlich in der Erinnerung. Doch schreibt mir auch Frau Wagner, daß sie sich, am Rheine reisend, meiner Schilderung entsonnen habe.
Unser Zusammentreffen hat stattgefunden, in beglückendster Weise, aber nicht hier in Basel, sondern in Straßburg: nach langem telegraphischen Wetterleuchten zwischen hier und mehreren süddeutschen Städten wurde endlich der Baseler Aufenthalt als unmöglich erkannt, und so reiste ich denn eines Freitags nach Straßburg, wo wir mit- und beieinander zwei und einen halben Tag verlebten, ohne alle sonstigen Geschäfte, sondern erzählend und spazierengehend und Pläne machend und der herzlichsten Zueinandergehörigkeit uns gemeinsam erfreuend. Wagner war mit seiner Reise recht zufrieden, er hatte tüchtige Stimmen und Menschen gefunden und war heiter und zu allem Unvermeidlichen gerüstet. Der ganze Winter geht drauf, denn nach Weihnachten geht es nach dem östlichen Norden Deutschlands, besonders nach Berlin, wo auf drei Wochen etwa Halt gemacht werden soll. Es ist nicht gewiß, aber möglich, daß er nach Mailand, zur Scala-Aufführung kommt.
Gersdorff trifft in der ersten Hälfte des Januar hier ein, um dann unverzüglich weiter, nach Florenz und Rom zu reisen. Im Februar will er mit seinem Vater in Rom zusammentreffen. Er bedarf jetzt, ebenso wie sein Vater, doppelt dieser längst vorbereiteten Reise, da in der allerletzten Zeit sein einziger Bruder, nach dreijährigem leidensvollen Aufenthalte im Irrenhause (Illenau), gestorben ist. Er ist nun die einzige Hoffnung seines Geschlechtes; seine Eltern sind ganz vereinsamt, da auch die letzte und jüngste Schwester, die bisher mit den Eltern zusammen lebte, sich jetzt verheirathet hat, mit einem Gr<afen> Rothkirch-Trach. Übrigens hat Gersdorff mir neulich ganz begeistert ebenso über Ihre als die Herzenschen Memoiren geschrieben: woraus Sie wenigstens das entnehmen können, daß er bei seiner Vorbereitung auf Italien, sich doch besonders auch auf Florenz gut vorbereitet.
Beiläufig: was sind denn das für philologische Fragen, vereintestes Fräulein, die Sie wie Sie schreiben auf dem Herzen haben? Machen Sie doch mit mir einen Versuch — falls Ihnen nicht etwa Wilamowitz den Glauben an meine Philologie erschüttert hat. Für diesen Fall stehe ich aber immer noch zu Diensten, da ich dann Freund Rohde heranziehen würde, an dessen Philologie zu zweifeln ich Niemandem erlaube.
Was haben Sie denn für den nächsten Sommer, nach der sehr schmerzlichen Trennung von Fräulein Olga, beschlossen? Und auf welchen Termin ist die Vermählung angesetzt? Und soll sie in Paris gefeiert werden? Oder bei Ihnen in Florenz?
Das Buch des Hr Monod über Gregor von Tours ist in den deutschen gelehrten Zeitschriften sehr rühmend besprochen und als das Beste und Werthvollste, gerade vom Standpunkte strenger historischer Schule aus, bezeichnet worden, was bis jetzt über Gregor geschrieben ist.
Heute Abend will ich abreisen. Ich sende Ihnen und Fräulein Olga einen herzlichen Weihnachts- und Neujahrsgruß zu. Es lebe dieses Jahr, aus manchen andern Gründen, aber namentlich weil es so schöne und hoffnungsreiche Gemeinsamkeiten geschaffen hat. Es läuft alles auf einer Bahn, und dem Tapferen muß das Gute und das Schlimme gleich recht sein.
Verehrungsvoll Ihr
getreuer
Fr Nietzsche