1872, Briefe 183–286
233. An Richard Wagner in Bayreuth
<Basel.> Am 24 Juni 1872
Johannistag! Johannistag!
Blumen und Bänder, so viel man mag!
Ja geliebter Meister, mit wahrem Wohlgefühle scheide ich von diesem Johannistage, der mir Ihren herrlichen und lange in mir fortklingenden Brief gebracht hat. Wie glänzend habe ich einen solchen Tag in meinem Leben zu verzeichnen, der mich an seinem Schlusse nur mahnt dankbar um mich zu blicken, mich nicht einsam zu wissen und mit frohem Gefühle das zu bewundern, was mir das günstigste Geschick zu erleben gab: das unverdiente reine Wohlwollen und die kräftig schirmende Liebe des mächtigsten Geistes.
Sie geben mir Zeit, meiner Aufgabe entgegen zu reifen; ja Sie reuten mit gütiger Hand selbst das zähere widerborstige Unkraut aus meinem Wege. Allem diesem gegenüber bin ich nichts als Zukunft — an diese zu glauben ist mir nur selten so rein erlaubt wie an diesem Tage, an dem Ihre Hoffnungen mir selbst eine solche Zukunft, wie wir sie wünschen, zu verbürgen scheinen.
Alles was Sie mir schreiben, wird hier von meinen Freunden auf das Höchste für wahr gehalten; ja ich glaube dass Basel vorbereiteter ist als manche Stadt gerade diese Ihre Worte zu verstehen, ja dass nicht Wenige sich an der öffentlichen Ehre, die mir erwiesen wird, mit erfreuen.
Vielleicht habe ich Ihnen noch nicht erzählt dass Dr. Romundt von Nizza hier eingetroffen ist, um sich hier als Privatdozent für Philosophie zu habilitiren; er hat eine Schrift fertig, des Titels: „Kant und Empedocles.“
Mir selbst ist es eigentlich leiblich schlecht gegangen; ich musste wieder zu Bett liegen und habe heute zum ersten Male das Gefühl der wirklichen Gesundheit. Es ist mir verdriesslich, wie leicht und wie oft ich gänzlich umgeworfen werde, aber ich hoffe von nun an immer gesünder zu sein, und mein Arzt glaubt das auch.
Ach verehrtester Meister ich bin heute so glücklich. Einer grossen Gefahr bin ich in meinem Leben entgangen, Ihnen niemals nahe zu treten und weder Tribschen noch Bayreuth geschaut zu haben. Seit ich die Festempfindung jener Grundsteinlegung mit mir herumtrage, fühle ich mich so beruhigt: das folgende Lebensloos ist gleichgültiger.
Ein eben von München eintreffendes Telegramm Bülows giebt mir nun auch noch die Hoffnung, in dieser Woche den Tristan zu hören! Es ist nicht möglich, einen reicheren und volleren Sommer zu erleben — und Alles durch Sie! Wie könnte ich Ihnen danken!
In treuer Liebe
Ihr
Friedrich Nietzsche.